Ausschreitungen bei Eritrea-Festen:Was hinter den Krawallen der eritreischen Diaspora steckt

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Am vergangenen Wochenende stürmten oppositionelle Exil-Eritreer in Stuttgart ein Fest, Dutzende Menschen wurden verletzt, 228 Verdächtige vorläufig festgenommen. (Foto: Jason Tschepljakow/DPA)

Stuttgart, Gießen - aber auch Stockholm, Tel Aviv, Toronto, Seattle, Zürich: Bei eritreischen Veranstaltungen im Ausland eskaliert neuerdings häufig die Gewalt. Über die Hintergründe und Zusammenhänge.

Von Max Ferstl, Christoph Koopmann und Arne Perras

Schon wieder Ausschreitungen rund um ein "Eritrea-Festival". Vergangenes Wochenende in Stuttgart versuchen Hunderte oppositionelle Exil-Eritreer, ein Fest zu stürmen, auf dem sie Regimetreue vermuten. Am Ende sind Dutzende Menschen verletzt, die Polizei nimmt 228 Verdächtige vorübergehend fest. Ähnlich blutige Ausschreitungen gab es Anfang Juli im hessischen Gießen - und an vielen weiteren Orten: Stockholm, Tel Aviv, Toronto, Seattle, Zürich. Was ist da los? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Warum fliehen so viele Menschen aus Eritrea?

Eritrea, seit dem späten 19. Jahrhundert italienisches Kolonialgebiet am Roten Meer, fiel im Zweiten Weltkrieg an Großbritannien, wurde aber 1952 von den Vereinten Nationen in eine Föderation mit dem damaligen Kaiserreich Abessinien eingebunden. 1962 annektierte Äthiopiens Kaiser Haile Selassie das autonome Gebiet, was einen zähen Freiheitskampf auslöste. Viele Flüchtlinge, die seit längerer Zeit im Ausland leben, haben Eritrea in der Zeit des Befreiungskrieges verlassen, meistens in den 80er-Jahren. Viele sympathisierten mit den damaligen Rebellen, die heute noch regieren.

Der Krieg endete 1991 mit dem Sieg der Eritreischen Volksbefreiungsfront, seither herrscht Isaias Afewerki über das Land, ein zunehmend paranoider Machthaber. Er hat in Asmara ein totalitäres Regime errichtet, manche sprechen vom "Nordkorea Afrikas". Das System stützt sich auf ein weit verzweigtes Spitzelnetzwerk.

Jeder eritreische Staatsbürger ist zu unbefristetem Militär- und Nationaldienst verpflichtet, Elend und Unterdrückung treiben seit Jahren Eritreer in Massen aus dem Land, sie leben auf viele Staaten verteilt. Fast jeder zweite der mehr als sechs Millionen Eritreer lebt nach Schätzungen in der Diaspora. In Deutschland sind es etwa 70 000 eritreische Staatsangehörige.

Warum ist die Diaspora weltweit gespalten?

Laut Beobachtern der Szene gibt es unter denen, die während des Befreiungskrieges ihr Land verließen, zahlreiche Sympathisanten der Regierung in Asmara. Anders bei jenen, die seit den 90er-Jahren geflohen sind. Unter ihnen gelten viele als Regimegegner, sie suchen Rettung im Ausland, weil sie entweder verfolgt wurden oder sich eben dem unbefristeten Militärdienst entziehen, der staatlicher Zwangsarbeit gleichkommt. So gibt es in vielen Ländern Oppositionelle und Anhänger des eritreischen Regimes, die sich gegenseitig stark misstrauen.

Auch in Tel Aviv kam es Anfang September zu Protesten und Ausschreitungen von Exil-Eritreern. (Foto: Ohad Zwigenberg/AP)

Wie sind die eritreischen Vereine in Deutschland entstanden und wofür stehen sie?

Die eritreischen (Kultur-)Vereine sind im Zuge der Migration entstanden. Die Politologin Nicole Hirt, die seit vielen Jahren über die eritreische Diaspora forscht, nennt sie "transnationale Kontrollorganisationen der eritreischen Regierung", mit ihrer Hilfe sollen die im Ausland lebenden Eritreer überwacht und möglichst gesteuert werden; das geschieht offenbar unter dem Deckmantel eritreischer Kultur.

Die Veranstalter versichern meist, sie organisierten unpolitische Feste. Auf den Versammlungen aber werden patriotische Lieder gesungen und Fahnen geschwenkt. Kritiker betonen, dass sie dazu dienten, das Regime in Asmara zu verherrlichen. Auftritte und Videos des angeblichen Poeten Awel Said sind hochumstritten. Gegner werfen ihm vor, zu Gewalt und sogar Völkermord in Tigray aufgerufen zu haben, was er selbst bestritten hat. Viele Eritreer sehen sich in der Diaspora gezwungen, eine sogenannte Aufbausteuer an das heimische Regime zu entrichten, fällig werden zwei Prozent des Einkommens, selbst wenn es Sozialleistungen sind. So hat Asmara einen Weg gefunden, maßgeblich vom Massenexodus seiner Staatsbürger zu profitieren. Insider sagen, die Kontrolle durch den Staat laufe sehr subtil ab.

Warum eskaliert die Gewalt gerade in jüngster Zeit, und welche Erkenntnisse gibt es über die Drahtzieher der Krawalle?

Den Sicherheitsbehörden zufolge geht die Gewalt vor allem auf eine Bewegung namens "Brigade Nhamedu" zurück. Diese ist demnach im vergangenen Jahr von vorwiegend jungen Oppositionellen im Ausland ins Leben gerufen worden. Auf Social Media haben Videos und Beiträge mit entsprechendem Hashtag Millionen Aufrufe.

Im Vorfeld eritreischer Veranstaltungen 2022 und in diesem Jahr in Gießen hatte die Polizei Aufrufe an Eritreer im Netz gefunden, von überall nach Gießen zu kommen, um das Festival zu verhindern. Anführer der Bewegung ist den Behörden zufolge ein Mann, der sich "John Black" nennt. Nach Erkenntnissen deutscher Sicherheitsbehörden ist er niederländischer Staatsbürger mit eritreischen Wurzeln. Auch aus Norwegen, Frankreich und den Niederlanden reisten manche nach Gießen, teilte das hessische Innenministerium auf Anfrage mit. Jüngst in Stuttgart wurden mehr als 60 Personen festgenommen, die aus der Schweiz gekommen waren. Die Behörden erklären sich das nach bisherigem Stand vor allem mit der Mobilisierung über Social Media.

Wie kam es am vergangenen Samstag in Stuttgart zur Eskalation?

Ausgangspunkt war eine Veranstaltung des Verbands eritreischer Vereine im Römerkastell. Der Verband sympathisiert mit dem Regime in Eritrea. Gruppen von Regimegegnern zogen zum Römerkastell, attackierten Polizisten und Teilnehmer des Seminars mit Steinen, Flaschen, Holzlatten.

Die Landesregierung betont, es habe vorab keine Hinweise gegeben, dass die Situation so eskalieren könnte. Die Stadtverwaltung vermietet dem Eritreer-Verband nach eigenen Angaben seit Jahren Räume. Bis zum Samstag habe es keine Zwischenfälle gegeben, heißt es. Künftige Treffen zu verbieten, auch weil sich dabei offensichtlich Anhänger einer Diktatur treffen, dürfte juristisch aber kompliziert werden. "Veranstaltungen in geschlossenen Räumen müssen ja noch nicht einmal angemeldet sein", sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Es müssten "sehr schwerwiegende Dinge sein, um das zu verbieten".

Wie geht es in Stuttgart weiter?

Ursprünglich plante der Verband bereits am Samstag ein weiteres Treffen. Diesmal wollte er in Zuffenhausen den Beginn des Unabhängigkeitskriegs gegen Äthiopien 1961 feiern. Doch wie die Stadt Stuttgart am Mittwochabend mitteilte, habe man den Mietvertrag für die Versammlungshalle "im gegenseitigen Einvernehmen" aufgehoben. Die Entscheidung sei im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gefallen.

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Johannes Russom vom Dachverband der eritreischen Vereine will die Absage als Beitrag zur Deeskalation verstanden wissen - nicht als Kapitulation vor der Gewalt. "Wir haben das nur getan, um der Sorge der Bürgerinnen und Bürger und Öffentlichkeit mehr Rechnung zu tragen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Das Treffen am Samstag sei nur "auf unbestimmte Zeit verschoben".

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