Familienpolitik:Arithmetik der Armut

Lesezeit: 3 min

Bundesfinanzminister Christian Lindner beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung. (Foto: IMAGO/Bernd Elmenthaler/IMAGO/Bernd Elmenthaler)

Finanzminister Christian Lindner spricht von einem statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut. Warum damit nichts über Ursachen gesagt ist.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat mit seinen Äußerungen über den "ganz klaren statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut" eine heftige Debatte ausgelöst. Linke-Chefin Janine Wissler sprach von einem "rechtspopulistischen Überbietungswettbewerb", Stimmen aus der SPD und der Linken warfen ihm gar Rassismus vor. Und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) konterte, Kinderarmut sei "kein Problem, das sich nach Zuordnung zu einer Staatsangehörigkeit lösen lässt". Lindner hatte sich vor allem auf Zuwanderung seit 2015 bezogen und gefordert, in die Sprachförderung, Integration und Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren sowie Kitas und Schulen für die Kinder besser auszustatten, statt den Eltern Geld zu überweisen.

Nun weiß Lindner ebenso wie andere Beteiligte, dass ein statistischer Zusammenhang noch keine Ursächlichkeit bedeutet - und womöglich andere Variablen wirken. Zunächst aber lohnt ein Blick auf die Fakten - und die Frage, was sich daraus ableiten lässt.

Im März wurde nach Angaben aus der Bundesregierung für etwa 1,959 Millionen Personen unter 18 Jahren Bürgergeld gezahlt. Davon waren 933 000 Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit, was einem Anteil von etwa 47,6 Prozent entspricht. Unter ihnen waren etwa 275 000 ukrainische Kinder, also knapp 30 Prozent der ausländischen Kinder und 14,1 Prozent an der Gesamtheit.

(Foto: SZ-Grafik; Quellen: Deutscher Bundestag, Agentur für Arbeit (Stand März 2023))

Unter den übrigen 650 000 Kindern, etwa ein Drittel aller Personen unter 18 Jahren, die Bürgergeld beziehen, sind nach Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA), die auch das Familienministerium verwendet, etwas mehr als die Hälfte Angehörige von Familien, die als Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan nach 2015 in Deutschland Zuflucht gesucht haben.

Aus den Zahlen der Bundesagentur geht weiter hervor, dass im Jahr 2015 etwa 1,5 Millionen Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit Hartz-IV-Leistungen bezogen haben, die vom Bürgergeld abgelöst wurden. Im März 2023 waren es nur noch etwas mehr als eine Million. Die Zahl ausländischer Kinder, die Zahlungen erhielten, wuchs im selben Zeitraum von 366 000 auf die genannten 933 000.

Eine lange Bezugsdauer dürfte ein Hinweis auf strukturelle Probleme sein

Außerdem hat eine Auswertung der BA ergeben, dass Kinder aus solchen Familien im Durchschnitt deutlich länger Bürgergeld beziehen als ausländische Minderjährige insgesamt. Bei deutschen Staatsangehörigen nehmen allerdings auch etwa 40 Prozent der Betroffenen die Leistungen vier Jahre oder länger in Anspruch - was ein Hinweis auf strukturelle Probleme und verfestigte Armut sein dürfte.

Lindner hat den Zusammenhang also erst einmal korrekt dargestellt - was aber noch keine Aussage über Ursachen zulässt. Der Finanzminister argumentiert, dass der Staat besser Geld für den Spracherwerb der Eltern, Aus- und Fortbildung und ihre Integration am Arbeitsmarkt ausgeben sollte. Dafür spricht, dass Erwerbstätigkeit der Eltern unbestritten der wichtigste Faktor ist, um das Armutsrisiko von Kindern zu senken, und es einen starken Zusammenhang gibt zwischen niedrigen Bildungsabschlüssen der Eltern und Kinderarmut.

Allerdings ist der Zugang zum Arbeitsmarkt auch vom Aufenthaltsstatus abhängig, dafür sind Arbeitserlaubnis und in manchen Fällen auch die Zustimmung der Bundesagentur nötig sowie die Anerkennung von Berufsabschlüssen. Der Gesetzgeber hat hier die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bessergestellt; sie dürfen ohne Wartezeiten und Beschränkungen arbeiten. Überdies werden in Studien andere Faktoren für ein hohes Armutsrisiko identifiziert, die überdurchschnittlich oft auf Flüchtlingsfamilien zutreffen - Alleinerziehende und Familien mit mehr als drei Kindern sind am stärksten gefährdet.

Der Ökonom Marcel Fratzscher stellte im ZDF infrage, dass es einen Zusammenhang zwischen Migration und Kinderarmut gebe, und verwies auf die Bezugsgröße. Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat - gemeint ist der Median, der die Einkommensverteilung in der Bevölkerung in genau zwei Hälften teilt, nicht der Durchschnitt. 2022 lag dieser 60-Prozent-Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 1250 Euro netto im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren waren es 2625 Euro netto im Monat.

Fratzscher argumentiert, seit 2015 seien durch Migration noch ärmere Menschen hinzugekommen, daher sinke das mittlere Einkommen. Damit würden auch deutsche Kinder aus der Statistik fallen, schlicht weil die Armutsschwelle gesunken sei. Das allerdings lässt sich aus Daten des Statistischen Bundesamtes und der EU allenfalls für die Jahre seit Beginn der Corona-Pandemie untermauern: Bis einschließlich 2020 ist der Median des sogenannten Äquivalenzeinkommens laut Statistischem Bundesamt kontinuierlich gestiegen, 2021 ging er deutlich zurück, im vergangenen Jahr wuchs er minimal.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKindergrundsicherung
:Rechnung mit Unbekannten

Nach langem Rätselraten bringt der Gesetzentwurf von Lisa Paus etwas Klarheit: 3,5 Milliarden Euro im Jahr soll die Kindergrundsicherung kosten, wenn sie 2025 eingeführt wird. Doch für die Zeit danach werden keine Zahlen genannt. Das Ringen mit der FDP geht weiter.

Von Henrike Roßbach

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: