Organisierte Kriminalität in Deutschland:Wenn der Mafiaboss auspackt

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Nicolino Grande Aracri sitzt in einem Mailänder Gefängnis. (Foto: Eatalyano/CC BY - SA 4.0)

Mit Nicolino Grande Aracri soll einer der ganz großen Namen der 'Ndrangheta entschieden haben, als Kronzeuge mit der italienischen Justiz zu kooperieren. Von seinen Aussagen könnten auch die Behörden in Deutschland profitieren.

Von Florian Fuchs, Oliver Meiler und Christian Wernicke

Der Mann, dessen Worte in nächster Zeit so verdammt viel wert sein können, sitzt in einem Mailänder Gefängnis, Mord, lebenslange Haft. Nicolino Grande Aracri, so sein voller Name, galt als rechte Hand von Antonio Dragone, dem Boss der 'Ndrangheta aus dem süditalienischen Kalabrien. Dann soll er ihn umgebracht haben, 2004 war das.

Heute ist Aracri, 62, der aus der Kleinstadt Cutro unweit der ionischen Küste Kalabriens stammt, selbst einer der ganz großen Namen der 'Ndrangheta, auch wenn er im Gefängnis sitzt. Ein moderner Superboss, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass sich die kalabrische Mafia in den vergangenen Jahren internationalisierte. Und es ist eine mittlere Sensation in der Geschichte des organisierten Verbrechens in Italien, dass ausgerechnet "Don Nicola", wie er auch genannt wird, nun entschieden hat, als Kronzeuge mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Bisher hatte noch kein Boss der 'Ndrangheta diesen Schritt gewählt. Das kalabrische Kartell galt immer als undurchdringbar, ist bekannt dafür, im Verborgenen zu agieren.

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Die Verhöre in Mailand haben ein Echo - bis ins ferne Düsseldorf, darüber hatte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung zuerst berichtet. Denn auch das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt ermittelt seit Jahrzehnten gegen die 'Ndrangheta. Aracri hat selbst mehrere Jahre in Münster und Warendorf gelebt. Zwar betont Thomas Jungbluth, zuständiger LKA-Abteilungsleiter, im Gespräch mit der SZ, man wisse bisher nicht, "was der Kronzeuge eventuell gesagt hat und über wen". Wenn es aber um "kriminelle Vergehen in NRW geht, dann wollen wir das wissen". Man kooperiere im Rahmen einer italienisch-deutschen Taskforce und werde "zu gegebener Zeit beantragen, den Mann zu vernehmen". Da klingt Hoffnung durch - Hoffnung auf Einblicke.

Verhört wird Aracri in Italien derzeit von Nicola Gratteri, dem Staatsanwalt von Catanzaro und wichtigsten Kenner der 'Ndrangheta. Offenbar dauern die Gespräche schon länger an, ohne dass über deren Inhalt etwas publik geworden wäre. Auch floss noch nichts davon in laufende Verfahren gegen die Clans. Und so fragt man sich in Italien, ob Grande Aracri überhaupt Wesentliches erzählt über das Wesen und die Verflechtungen der mächtigsten und reichsten italienischen Mafia des Moments. Oder ob er nur auf Hafterleichterung hofft.

Dennoch: Die italienischen Medien vergleichen die Begegnung von Grande Aracri mit Gratteri schon jetzt mit jener in den 1980er-Jahren von Tommaso Buscetta, einem reumütigen Boss der sizilianischen Cosa Nostra, mit dem großen Mafiajäger Giovanni Falcone. Diese sollte eine Zäsur markieren im Kampf des Staats gegen das organisierte Verbrechen. Packt Grande Aracri aus, wie Buscetta das tat, müssten wohl auch viele Figuren an der schummrigen Schnittstelle zwischen Ober- und Unterwelt zittern.

"Nicolino Grande Aracri kann Aussagen treffen, die keiner der bisherigen Kronzeugen treffen kann", sagt auch Sandro Mattioli. Als Vorsitzender des Vereins "Mafia? Nein Danke!" aus Berlin versucht er, über die Aktivitäten der italienischen Mafia in Deutschland aufzuklären. In seinem Blog berichtet der Verein auch über Grande Aracri. Sollte der Mafiaboss wirklich sprechen, könne "ein Erdbeben" bevorstehen. Als hochrangiges Mitglied der 'Ndrangheta sei seine Aussage mutmaßlich nicht so sehr interessant für die Aufklärung einzelner Straftaten wie Kokaindeals, sagt Mattioli. Dafür habe er besten Einblick in Strukturen der Mafia in Deutschland und in komplexere Sachverhalte wie Investments. "Wenn man aufklären will, wie die 'Ndrangheta in Deutschland organisiert ist, könnte er wichtigen Input liefern."

Aktiv im Kokaingeschäft

Bundesdeutsche Kriminalisten sortieren die 'Ndrangheta zusammen mit der Camorra (aus dem Raum Neapel) und der Cosa Nostra (Sizilien) unter einem gemeinsamen Kürzel ein: IOK, "Italienische Organisierte Kriminalität". Nach Erkenntnissen der Ermittler hat sich der kalabrische 'Ndrangheta-Verbund seit Jahren die Pfründen im lukrativen Kokainhandel gesichert. "Die 'Ndrangheta als international dominierende Gruppierung der IOK soll nach Angaben der italienischen Behörden für bis zu 80 Prozent der Kokainimporte nach Europa verantwortlich sein", bestätigte die Bundesregierung im März dieses Jahres, als sie eine Anfrage der Grünen im Bundestag beantwortete. Das Ausmaß der kriminellen Energie der 'Ndrangheta in der Bundesrepublik beschreiben die Beamten von Innenminister Horst Seehofer so: "Deutschland ist für die 'Ndrangheta einer der wichtigsten Aktions-, Investitions- und Rückzugräume außerhalb Italiens."

Und das geht seit Jahren so. Anders als etwa türkisch-arabische Familienclans oder Rockerbanden vollzieht die Mafia ihre Geschäfte geräuschlos. Thomas Jungbluth vom LKA-NRW zufolge sind ihre kriminellen Umsätze und Gewinne in Deutschland nicht seriös zu beziffern. Gemein sei der italienischen Mafia wie den türkisch-arabischen Clans jedoch eines: "Beide schaffen sich ihre Parallelwelten - die einen offen, die anderen verdeckt." Die Frage, wer bedrohlicher agiere, beantwortet Jungbluth wie einst schon Bertolt Brecht beim Vergleich von Haifisch (mit Zähnen im Gesicht) und Mackie Messer (dessen Waffe man nicht sieht): "Die, die man nicht sieht, sind meistens gefährlicher."

Dennoch, manchmal explodiert auch die Gewalt der 'Ndrangheta, es geht schließlich um bis zu 50 Milliarden Euro Drogenumsatz europaweit: Vor 14 Jahren, im August 2007, erschütterte ein mafiöser Blutrausch Nordrhein-Westfalen, als bei einem Streit zweier verfeindeter 'Ndrangheta-Familien in Duisburg sechs Menschen auf offener Straße erschossen wurden. Angeblich, so berichten Insider, hat die kalabrische Mafia deshalb in Deutschland ein eigenes Aufsichts- und Schlichtungsgremium etabliert, den sogenannten Crimine di Germania. "Deutschland ist groß, sehr reich", erklärte Nicola Gratteri dieses zweifelhafte Novum eines 'Ndrangheta-Rates im Ausland im Februar der FAZ und dem MDR, da sei es schwieriger, "den Streit innerhalb der Ortszellen unter Kontrolle zu halten."

Mammutprozess am Landgericht Duisburg

Schon 2018 zählte das Bundeskriminalamt 344 mutmaßliche Mitglieder der 'Ndrangheta in Deutschland. Die Geschäfte wuchern, die Zahl der Mafiosi wächst, auch in NRW: 2015 zählte man an Rhein und Ruhr 101 mutmaßliche Mafiosi, 2018 bereits 117. Der WAZ bestätigte Jungbluth, dass 2018 davon mehr als die Hälfte (67) der 'Ndrangheta angehörten.

Das Land an Rhein und Ruhr ist besonders exponiert. Denn die Drogen aus Südamerika kommen meist über Antwerpen und Rotterdam nach Deutschland. In einem Mammutprozess vor dem Landgericht Duisburg wird das Mafia-Gebaren gerade durchleuchtet: Erst entdeckte die niederländische Polizei 2015 zwischen Holzlatten aus Guyana 95 Kilo Kokain, drei Jahre später verhafteten die Ermittler in der europaweiten Aktion "Pollino" 84 Verdächtige - plus vier Tonnen Kokain und zwei Millionen Euro in bar.

Auch bayerische Ermittler könnten von möglichen Aracri-Aussagen profitieren. Der Bruder von Grande Aracri war in Augsburg gemeldet. Das bayerische Landeskriminalamt geht davon aus, dass sich etwa 100 Angehörige von italienischen Mafiaorganisationen im Freistaat aufhalten. Ein Einblick in die Strukturen, heißt es aus dem LKA, wäre "Gold wert". Augsburg, München und Nürnberg als Ballungszentren seien Schwerpunkte der Mafiaermittlungen im Freistaat. Außer auf den Kokainhandel und Geldwäsche konzentrieren sich die Ermittlungen mehr und mehr auf das Phänomen der "Agromafia" - also wie die Clans die italienische Lebensmittelproduktion und damit auch den Export der Produkte nach Deutschland beherrschen.

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