Sonntag um halb sechs ist eine besondere Zeit, eine Schwelle zwischen Nacht und frühem Morgen. Auf den frisch gemähten Feldern vor Bad Tölz treffen Fuchs und Reh aufeinander, in den leeren Straßen Richtung Kurhaus Menschen mit unterschiedlichen Ambitionen: Feiernde, die noch die letzten Tropfen aus der Nacht pressen wollten und heimwärts wanken, Wanderlaunige mit Rucksack und schwerem Schuhwerk auf dem Weg in die Berge und zur Abwechslung auch Gäste, die den Sonntagmorgen mit einem flotten Tanz begrüßen möchten.
Letztere peilen das Tölzer Kurhaus an, denn es ist wieder Kocherlball, und auf der Terrasse stimmt sich das Ensemble Musicanti Bavaresi schon ein: Gleich wird hier bayerische und wienerische Tanzmusik ertönen - ein buntes Programm aus Polka, Walzer und Polonaise.
Mit dem Tölzer Schützenmarsch beginnt der Tanz
Den Tölzer Kocherlball gibt es seit 2014 nach Münchner Vorbild. Im 19. Jahrhundert tanzten Dienstmädchen, Köchinnen, Gärtner und Dienstboten Sonntagmorgen im Englischen Garten miteinander, während die Herrschaften schliefen oder die Messe besuchten. Heimlich, weil Sonntagstanz als unsittlich galt. Während der Ball nach seinem Verbot 1904 in München bereits im Jahr 1989 zum 200-jährigen Jubiläum des Englischen Gartens wieder ins Leben gerufen wurde, feierte Tölz mit dem ersten Tanz den 100. Geburtstag des Kurhauses. Mit etwa 70 Besucherinnen und Besuchern ist die diesjährige Tanzveranstaltung nicht ganz so groß wie der Münchner Kocherlball, der bei schönem Wetter etwa 10 000 Gäste anzieht. Rita und Uli Regele, das Tanzmeisterpaar im Kurpark, das auch schon in München getanzt hat, sagen darüber: "Eine Riesenveranstaltung ist das." Bad Tölz ist da irgendwie gemütlicher.
Die meisten Gäste an den Tischen sind in Tracht da, viele tragen Strickjacken, denn der Morgen am Nordrand der Alpen ist noch etwas kühl, wenngleich der Himmel schon blau über das Fest wacht. Der erste Kaffee dampft in den Tassen, als drei Minuten nach sechs das Ballorchester den Tölzer Schützenmarsch anstimmt. Da werden die Singvögel um ihren Gesang gebracht. "Ich habe gedacht, da stehen alle senkrecht im Bett, wenn wir den Tölzer Schützenmarsch spielen. Aber es sind wohl noch nicht alle angezogen", begrüßt Uli Regele das Publikum, und mit einem "Fang ma an" geht das Spektakel los.
Das zweite Stück ist eine Polonaise und lockt die ersten Tänzerinnen und Tänzer aufs Parkett. Die Gäste lassen den Kaffee stehen, beinahe alle Besucherinnen und Besucher strömen auf die Tanzfläche, als hätten sie die ganze Nacht darauf gewartet, und trippeln einander begrüßend im Kreis.
Die frühe Stunde hat niemandem die Laune verdorben
Maria und Alois Meiler aus der Oberpfalz sind zum Urlauben in Lenggries. Sie seien sogar mehrmals im Jahr in der Gegend, sagt Alois Meiler: zum Radfahren, zum Schwimmen, wegen der Natur, was der Isarwinkel eben so zu bieten hat. Auch den Kocherlball haben sie schon das ein oder andere mal besucht und finden ihn großartig. Zum Tanzen warten sie erst einmal einen Paartanz ab, entspannt beobachten die beiden das Treiben. "Wenn man zur Musi geht, ist es nicht schwer", sagt Maria Meiler auf die Frage, wie sie denn das frühe Aufstehen empfunden hat. Um 6.24 Uhr spielt die Musi dann den ersten Walzer und die Meilers verschwinden zwischen den Tanzpaaren.
Dass die frühe Morgenstunde niemandem hier die Laune verdorben hat, beweist die gut besuchte Tanzfläche. Manche der Paare wollen gar nicht zurück auf ihre Sitzplätze. Tanzmeister Regele schult gerade kurz in eine Mazurka ein, "linker Fuß und dann mit den Enden des anderen zweimal nachspringen". Das Tanzmeisterpaar Regele aus Herrsching ist kurzfristig anstelle von Philipp Korda eingesprungen. In Grainau in Garmisch-Partenkirchen laden die Regeles regelmäßig zu Volksmusiktagen ein, "zum Tanzen, Singen und Musizieren", wie Rita Regele erzählt. Dass sie beim Tölzer Kocherlball vortanzen dürfen, ist für die beiden eine große Ehre.
Die ersten Weißwürste kommen um 6.44 Uhr
Um 6 Uhr 44 trägt der Kellner die ersten Weißwürste an einen Tisch mit Kindern, aber Dagmar Karl vom Nachbartisch bleibt lieber bei der Brezn. Die Tölzerin ist als Einzige im Bediensteten-Gewand erschienen: grüne Haube und kariertes Kleid. "Das lag fünf Jahre lang im Schrank und wird jetzt ausgeführt", sagt die Sozialpädagogin. Karl ist schon zum dritten Mal hier, getanzt habe sie aber immer schon. "Am liebsten Tänze, wo es keinen Mann braucht", sagt sie augenzwinkernd. Den "Mann" tanzt Dagmar Karl ohnehin: Sie ist mit einer Frauengruppe hier. Nach dem Brezn-Frühstück sieht man sie mit einer ihrer Freundinnen übers Parkett fegen.
Der Morgen vergeht, die Musi spielt den Frühlingsstimmenwalzer, den Kaiserwalzer, den Konzertwalzer. Vertraute Melodien, das Publikum wiegt sich mit, die Dirndlröcke wehen auf der Tanzfläche. Einige der Gäste haben selbst Kuchen und Kaffee in Thermoskannen mitgebracht, wie es die Tradition möglich macht, und klappern gemütlich mit den Gabeln. Mit der Münchner Française, einer Art Quadrille aus dem Münchnerischen 19. Jahrhundert, endet der morgendliche Tanz. Die Tölzer Bigband Young Groove-teeth übernimmt gegen 10 Uhr. Und spätestens jetzt ist Bad Tölz aus seinem Schlaf erwacht.