LaMDa sei doch nur ein liebes Kind, das die Welt für uns alle besser machen will. Mit dieser Bemerkung irritierte der inzwischen gefeuerte Google-Mitarbeiter Blake Lemoine nicht nur seine Kollegen. Er sorgte außerdem für eine weltweite Diskussion. Denn LaMDa ist ein KI-Chatbot, von dem Lemoine überzeugt ist, dass er ein Bewusstsein und sogar eine Seele hat. Würde das stimmen, wäre das ein Quantensprung. Am Ende ist Lemoine aber wohl nur der Hybris der KI-Forschung erlegen. Bei Patricia Jung und Henry Shevek ist das anders. Die haben mit Einbug tatsächlich die erste starke künstliche Intelligenz (KI) entwickelt, wollen das aber selbst erst gar nicht glauben. Schließlich wollten sie doch nur eine autonome Trading-Software für die Börse programmieren. Aber dann ist Einbug in der Welt, die Büchse der Pandora ist geöffnet und jetzt nimmt das Unglück, dürften viele denken, seinen Lauf.
Aber nein. Denn Theresa Hannigs Roman " Pantopia", in dem die zuerst in München und dann in der ganzen Welt verortete Geschichte von Patricia, Henry und von Einbug steht, ist keine fatalistische Terminator-Story. Das im Fischer Tor Verlag erschienene Buch der in Fürstenfeldbruck lebenden Autorin ist eine Utopie. Also nichts mit schlauen Maschinen, die ihre Erzeuger umbringen. Stattdessen arbeitet Einbug, den Patricia und Henry zunächst für einen Bug, einen Computerfehler halten, mit den Menschen zusammen, um die Weltrepublik Pantopia zu realisieren. Sie entwickeln mit Pantopay ein eigenes Bezahlsystem, bei dem die jeweilige Schädlichkeit den Preis der Dinge bestimmt. Sie bauen überall Pantopia-Zentren auf, die Nationalstaaten werden dagegen abgewickelt. Weil diese mit ihrer Ineffizienz und ihren Eigeninteressen der Lösung globaler Probleme entgegenstehen.
Einbug versucht zu verhindern, dass sich die Menschheit ihr eigenes Grab schaufelt
Ohne Widerstand geht das natürlich nicht. Und auch Patricia und Henry müssen erst mal lügen und betrügen, damit sie Einbug von den Servern von Digit herunterkriegen. Der Münchner Firma, für die die beiden jungen Informatik-Absolventen die Trading-Software im Rahmen eines Wettbewerbs entwickelt haben. Insofern ist der auf der Longlist des Phantastikpreises der Stadt Wetzlar stehende Roman schon einmal keine blauäugige Fantasy-Geschichte. Überwinden müssen Patricia und Henry zudem ihre Zweifel und Ängste. Denn es ist vor allem Einbug, der die Entstehung von Pantopia vorantreibt. Damit sich die Menschheit, deren Infrastruktur und Körper er als reines Bewusstsein braucht, mit der Ignoranz der Klimakrise nicht ihr eigenes Grab schaufelt. Dann wäre es auch für ihn vorbei, der für sich als vernunftbegabtes Wesen die allgemeinen Menschenrechte reklamiert.
Ob es so etwas wie Einbug irgendwann geben wird? Auf jeden Fall, sagt Hannig auf Nachfrage am Telefon. Denn wenn Bewusstsein mittels biologischer Netzwerke entstehen konnte, warum sollte das "nicht auch mit einem anderen Material funktionieren?" Darauf sollten wir deshalb vorbereitet sein und uns "Regeln für ein gemeinsames Zusammenleben" überlegen. Und ob die KI gut oder böse wird, hänge ebenfalls von uns ab. "Eine KI ist immer nur so gut wie die Trainingsdaten", erzählt Hannig, die nach ihrem Politikwissenschaftsstudium in München als Softwareentwicklerin gearbeitet hat. "Wenn wir die KI mit wirklich guten Ideen füttern, mit einer Vorstellung davon, wie ein kooperatives und harmonisches Zusammenleben funktioniert: Dann habe ich eigentlich keinen Zweifel, dass wir es hinkriegen, eine KI zu schaffen, die dem Menschen eben nicht in Konkurrenz gegenübersteht."
Die wesentlichen Ideen in "Pantopia" stammen vom Philosophen Immanuel Kant
Im Fall von Einbug stammen diese Ideen in erster Linie von Immanuel Kant. Aus dessen Schrift "Vom ewigen Frieden", die für "Pantopia" eine wichtige Grundlage war. Bei ihrem 2017 erschienenen, mit dem Stefan-Lübbe- und Seraph-Literaturpreis prämierten Debütroman " Die Optimierer" diente noch Platons "Politeia" als Blaupause. Nur dass sich Platons Ideen dort zu einem diktatorischen Überwachungsstaat entwickeln. "Also ich habe ja nichts erfunden", sagt die Autorin über die Grundprinzipien von Pantopia. "Sondern es ist ein Rückgriff auf philosophische, politische oder ethische Konzepte, die wir längst haben". Und zu denen neben der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte etwa auch das bedingungslose Grundeinkommen gehört. Nur wurden diese eben nie realisiert oder zusammengeführt.
Und hier kommt Einbug ins Spiel, dessen Rolle in "Pantopia" im Wesentlichen die eines Katalysators ist. Weil die Menschheit selbst zu egoistisch oder geprägt durch schlechte Nachrichten und Katastrophen zu lethargisch ist. Dabei hat sie durch gemeinsame Kraftanstrengung doch erst Corona überwunden. Zumindest ist es in der in einer nahen Zukunft einsetzenden Geschichte so. Ein solch utopisches Moment, ein "Aufbruchsgefühl", das gab es auch im Sommer 2020. Wo wir dachten, dass wir "alles anders machen könnten", erzählt Hannig. "Und das haben wir nicht getan, und das war ganz schlimm. Weil wir alle in unsere alten Muster gefallen sind." Beim Schreiben habe sie aber genau das wiederum gepusht. "Denn ich dachte mir: Okay, die Welt macht, was sie will, aber ich werde die Chance nutzen und Pantopia so schreiben, wie es hätte laufen sollen."
Ihr Katastrophenspeicher ist wegen des Ukraine-Kriegs und der Abtreibungsgesetze in den USA gerade übervoll
Ob sie das auch heute noch so machen könnte? Wahrscheinlich nicht. Dafür sei ihr "Katastrophenspeicher" wegen des Ukraine-Kriegs inzwischen zu voll. Oder angesichts dessen, "was gerade in den USA mit den Abtreibungsgesetzen" läuft. Gerade aber deshalb möchte sie "dazu aufrufen, mehr Utopien zu schreiben und zu lesen. Weil uns das das Werkzeug, seelisch und auch ideenmäßig, an die Hand gibt, die Zukunft zu verändern". Dass sie das der Science-Fiction zutraut, hat sie ähnlich in einem lesenswerten Essay im Handelsblatt vom 25. Februar formuliert. Dort heißt es, dass "die Lesenden einen viel unmittelbareren, emotionaleren Zugang zu den Problemen und Möglichkeiten der Zukunft" durch Science-Fiction-Geschichten bekommen können als etwa durch einen wissenschaftlichen Bericht.
Tatsächlich verwandelt die 38-Jährige nicht nur politische Theorien in spannende Geschichten, sondern sie hat in den letzten Jahren mehrfach Unternehmen und Politiker in "Zukunftsdingen" beraten oder an entsprechenden Workshops oder Symposien mitgewirkt. Und seit vergangenem Jahr sitzt sie in Fürstenfeldbruck für die Grünen im Stadtrat. Da hat sie bereits gemerkt, dass das mit dem Weltverändern nicht so einfach ist und die bürokratischen "Mühlen wirklich langsam mahlen. Das kann einen frustrieren". Irgendwie bleibe einem aber "doch nichts Anderes übrig, als weiterzumachen." Auch wenn man nur sein eigenes, kleines "Fleckchen Erde" damit etwas besser macht. Diesen utopischen Geist will Hannig mit "Pantopia" vermitteln. Denn, so heißt es am Ende ihres Essays im Handelsblatt: Nur "wo Hoffnung ist, da ist auch Zukunft."
Theresa Hannig: Pantopia , Fischer Tor Verlag, Frankfurt am Main 2022, 464 S., 16,99 Euro