Traditionelle Wirtshäuser:Schweinsbraten gibt's auch

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Schon im 19. Jahrhundert war der Sollner Hof der Mittelpunkt des Ortes, stets bot die Wirtschaft Kartlern und Zechern eine Heimat. Susanne und Joachim Sickendiek haben das bodenständige Haus seit den Neunzigerjahren behutsam zu einem Feinschmeckerlokal weiterentwickelt

Von Jürgen Wolfram

Soll man ins 19. Jahrhundert zurückblenden, als sich aus dem Sämerhof der Sollner Hof entwickelte? Oder an die Brandstiftung von 1892 erinnern, deren Folgen so verheerend waren, dass sie einen wahren Katastrophen-Tourismus auslösten? Nicht zu vergessen die Bombennächte von 1944, als man im Gasthaus sieben Treffer zählte, ohne dass auch nur eines der Geschosse detoniert wäre. Alliierte Fehlproduktion, Glück gehabt. Einhaken könnte man an vielen Stellen der bewegten Geschichte des Sollner Hofs. Denn das Wirtshaus, lange Zeit in Kombination mit einer Metzgerei geführt, zählt zu den ältesten Gebäuden des Stadtteils überhaupt, markierte lange dessen Mittelpunkt.

Nach einer Reihe von Besitzerwechseln sollten die 1930er-Jahre historisch bedeutsam werden. Denn damals begann die Ära der Gastro- und Metzgerei-Dynastien Wittmann und Heigl. Sie wirkt bis heute fort. Nur dass Ende der 1980er-Jahre ein gewisser Joachim Sickendiek auftauchte. Den versierten Koch aus Ostwestfalen hatte es nach Lehr- und Wanderjahren ins Münchner Hotel Königshof verschlagen. Als er gemeinsam mit einem befreundeten Spross dieser Hoteliersfamilie mal wieder sein fröhliches Junggesellendasein ausleben und sich die Kante geben wollte, landeten die beiden im Sollner Hof. Dort half zu fortgeschrittener Stunde eine Tochter des Hauses aus, die eigentlich anderswo eine Ausbildung absolvierte. Es soll noch ein launiger Abend geworden sein. Und mit dem lockeren Junggesellendasein des Joachim Sickendiek ging es alsbald dahin.

Heute blicken Susanne und Joachim Sickendiek, Eltern zweier Töchter, auf drei Jahrzehnte gemeinsamer Arbeit im Sollner Hof zurück. Sie kümmert sich schwerpunktmäßig um den Hotelbetrieb, er setzt im Gasthaus kulinarische Standards, wie sie selbst im verwöhnten Münchner Süden selten zu finden sind. Das war nicht immer so. Einst galt der Sollner Hof eher als bodenständige Wirtschaft mit beträchtlichem Bierausstoß, als Hort der Stammtische.

In diese Zeit der Kartler, Zecher und Stammtischwetten reichen die aberwitzigsten Anekdoten zurück. Sie sind so zahlreich wie die Posten auf der Speisenkarte. Kolportiert hat sie Ursula Heigl einst für die "Sollner Hefte". In ihrer Chronik scheint zum Beispiel Sepp W. auf. Der Mann behauptete, 60 Hemden im Schrank zu haben. Eine Nachprüfung ergab: Es stimmte. Doch als Sepp W. sich einmal bei Platzregen vom damaligen Wirt Michael Heigl einen Schirm leihen wollte, entgegnete dieser: "Bei 60 Hemden derf amoi oans nass wern."

Alkoholgenuss soll eine andere Wette befeuert haben, bei der ein Willi A. im Sollner Weiher schwimmen und mit den Zähnen eine Seerose abbeißen und zum Stammtisch bringen musste. Hat der Mann tatsächlich gemacht. Um wie viele Liter Bier es ging, ist nicht überliefert. Absolut verbürgt sein soll indes die Geschichte vom Schreiner B. Der zog nächtens von einem Wirtshaus ins andere und ließ sich berauscht von seiner Frau mit dem Schubkarren abholen. Der kleine Sohn der Familie kommentierte den Vorgang mit den Worten: "Mei, Mama, wos ham mir da bloß zamgheirat."

Heiteres entstammt durchaus auch der gastronomischen Neuzeit. So haben sich die Sickendieks immer mal wieder darüber gewundert, wieso sich ihr Lokal an manchen Abenden schlagartig leerte. Ein Blick in die Fernsehzeitschrift gab Aufschluss: Frivole Sendungen à la "Tutti Frutti" oder Spitzenspiele im Fußball erwiesen sich regelmäßig als Straßen- und Wirtshausfeger.

Ein paar Stammtischler treffen sich noch heute im Sollner Hof. Die Rotarier sind darunter, aber nach wie vor auch Kartenspieler. Doch die Verwandlung in ein Feinschmeckerlokal ist nicht zu übersehen. Anfangs stießen derlei Ambitionen auf erheblichen Argwohn. Um die Bedenken zu zerstreuen, lud Joachim Sickendiek 30 der skeptischsten Stammgäste zu einer Sause in seine ostwestfälische Heimat ein. Zwischen Münster und Bielefeld seien die Vorbehalte dann nach und nach verdunstet, erinnert sich der 61-Jährige. Kohl mit Pinkel ja, feiner Pinkel nein. Die Botschaft saß. Mit einigen Teilnehmern verband Sickendiek später eine Freundschaft.

"Jeder Wirt muss auch ein Koch sein", lautet Sickendieks Credo. Es schadet natürlich nicht, wenn er obendrein als begnadeter Kommunikator auftritt. So einen können sie sogar im Aufsichtsrat einer Raiffeisenbank brauchen. Dem Wirt machen die Ausflüge in die Geldwelt seinerseits Spaß: "Ist eine schöne Abwechslung, da hat man mal einen anderen Horizont."

Von der Norm weicht manches ab im Sollner Hof. Welches Restaurant legt schon am Samstag und Sonntag Ruhetage ein? Ist halt familienfreundlich für die Wirtsleute und ihr Personal. Die Mitarbeiter, darunter viele treue Seelen, dürften sich auch sonst nicht beklagen. Flexible Arbeitszeitgestaltung. Hausgemachte Zusatzausbildung. Überdurchschnittliche Bezahlung. Keine Entlassung wegen Corona. Dazu sorgfältig ausgewählte, zuverlässige Lieferanten. Wie sehr die Sollner an ihrem traditionsreichen Gasthof hängen, zeigte sich zuletzt am Muttertag: Mitten in der Pandemie wurden 500 Essen außer Haus geordert. "Manchmal wird's stressig, aber es ist schon auch ein Glück", sagt Joachim Sickendiek.

© SZ vom 03.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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