Schulserie: Einblicke ins Klassenzimmer:Wenn der Klassenrat tagt

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Am Theodolinden-Gymnasium ist die Meinung schon von den Jüngsten gefragt. Einmal in der Woche beratschlagen sie sich und fällen Entscheidungen. (Foto: Stephan Rumpf)

Am Theodolinden-Gymnasium in Untergiesing-Harlaching besprechen Schüler einmal die Woche ihre Probleme. Lehrer dürfen dann nur zuhören. Ein Modellversuch mit erstaunlichen Ergebnissen.

Von Kathrin Aldenhoff

Sie sind nicht einverstanden. Ganz und gar nicht. Eine Gruppe von Kindern fühlt sich ungerecht behandelt von ihrem Lehrer. Carlos erzählt, sie hätten ein Bild mit einem Ast und Äpfeln malen sollen. "Da hat er zu meinem Ast gesagt, der sieht aus wie ein Kleiderbügel! Aber ich meine, Kunst ist Kunst!", echauffiert sich der Fünftklässler. "Wir finden das nicht in Ordnung!", sagt Lisbeth, einige Kinder nicken. Das Thema bewegt sie. Am Ende werden sie eine Lösung für das Problem finden. Und die Idee dazu wird von einer Schülerin kommen.

Es ist Freitagvormittag, und die Klasse 5b des Theodolinden-Gymnasiums in Untergiesing-Harlaching hält ihren Klassenrat ab. Lehrerin Susanne Inkiow sitzt mit ihnen im Stuhlkreis, darf nur reden, wenn sie aufgerufen wird und hat sonst die Rolle, zuzuhören und die Kinder machen zu lassen. Eine Rolle, die ihr beim heutigen Thema nicht ganz leicht fällt, am Ende hat sie auf der Liste der Zwischenrufe drei Striche. Einen, weil sie gleich am Anfang daran erinnert, dass der Klassenrat vergangene Woche beschlossen hatte, die Fensterbänke aufzuräumen. Und anmerkt, dass das noch nicht passiert ist. Einen Klassenrat einzuführen, das war ihre Idee. Sie kannte das von ihrer früheren Schule, einer privaten. Und die Kinder, erzählt sie, die fanden den Vorschlag super.

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Die Idee mit dem Kuchenverkauf

"Wir mögen den Klassenrat total gern", sagt Lisbeth. "Jeder macht richtig mit, und das machen nur wir Kinder." Ihre Mitschülerin Lea erzählt, wie sie, kurz nachdem russische Truppen in der Ukraine einmarschiert sind, im Klassenrat einen Kuchenverkauf in der Pause diskutiert, beschlossen und organisiert haben. "Wir wollten alle helfen." Und das hat geklappt, mehr als 1000 Euro haben sie eingenommen und für die Menschen in der Ukraine gespendet.

"Sie waren so stolz nach dem Kuchenverkauf", erzählt Susanne Inkiow. Andere Klassen fingen auch an, in der Pause Kuchen zugunsten der Ukraine zu verkaufen - aber die Idee, die kam von der 5b. "Sie haben sich durch den Klassenrat mehr emanzipiert. Obwohl sie Fünftklässler sind, fühlen sie sich nicht wie die Allerkleinsten. Sie sind da, sie haben eine Meinung und bringen sich ins Schulleben ein."

Klassenrat in der 5b. Susanne Inkiow hat hier ausnahmsweise nur die Rolle einer Zuhörerin. (Foto: Stephan Rumpf)

Das Theodolinden-Gymnasium ist ein städtisches Gymnasium, 1000 Schülerinnen und Schüler lernen hier, ausgelegt ist die Schule für 750. Man merkt das an manchen Stellen, wenn sich zum Beispiel eine Traube von Schülern vor dem Bildschirm bildet, auf dem eine Tabelle durchläuft, in welcher Klasse welche Stunden ausfallen. Oder daran, dass die Klassen ihre Zimmer nicht für sich haben, sondern diese ab und zu auch von anderen Klassen belegt sind.

Das Lehrerzimmer hat drei Türen, so groß ist es; 110 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten an der Schule. Schulleiter Werner Ziegler spricht von einer gemischten Schülerschaft: Sie haben hier Kinder aus wohlhabenden Familien, Kinder aus sozial schwachen Familien, Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder aus etwa 40 Nationen. Der erste Schülersprecher, erzählt Werner Ziegler, sei ein geflüchteter Junge aus Syrien.

In diesem Schuljahr haben sie in allen fünften Klassen einen Klassenrat eingeführt, es ist ein Testlauf. Im Sommer wird ausgewertet, im kommenden Schuljahr soll es weitergehen. Außerdem soll es bald ein Schulparlament geben. "Die Schülerinnen und Schüler sollen mitreden und sich als Gemeinschaft erleben", sagt Werner Ziegler. "Ihre Rechte sind an einer Schule ja ohnehin eher eingeschränkt. Da, wo es möglich ist, sollen sie mitbestimmen. Dadurch leben sie Demokratie. Sie lernen Alltagskompetenzen. Das ist Schule fürs Leben."

Ärger mit dem Kunstlehrer

Die Klasse 5b hat einmal die Woche eine Stunde Klassenrat, das ist fest im Stundenplan verankert. Sie schieben die Tische an den Rand des Klassenzimmers, setzen sich in einen Stuhlkreis und legen erst einmal fest, wer als Präsident diese Sitzung leitet, wer Vize-Präsident ist, wer aufpasst, dass die Regeln eingehalten werden, wer Protokoll führt, wer darauf achtet, dass die Zeit, die pro Thema eingeplant wird, nicht überschritten wird - und wer die Striche an die Tafel macht, für diejenigen, die dazwischenreden, ohne sich zu melden.

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Interview von Kathrin Aldenhoff

Arozo ist dieses Mal Präsidentin, sie macht das zum ersten Mal. Das Mädchen steht vorne, hört die Themenvorschläge an, umreißt kurz das Thema Fensterbänke: Man könnte sie gleich nach dem Klassenrat aufräumen, allerdings ist da Pause. "Dann geht so viel Zeit fürs Aufräumen verloren", sagt sie. Außerdem schreiben sie wahrscheinlich in der nächsten Stunde in Natur und Technik eine Ex. Nach der sechsten Stunde passt es auch nicht so gut, weil sie Natur und Technik in einem anderen Raum haben. Schwierig.

Nächste Entscheidung: Tischtennis wird dieses Mal nicht besprochen. Sie konzentrieren sich auf ein Thema: darauf, dass sich einige Schülerinnen und Schüler von ihrem Kunstlehrer nicht ernst genommen fühlen. Er habe gesagt, ihre Bilder seien hässlich, sagen einige. Sie haben vor kurzem ein Papier mit ihren Vorwürfen aufgesetzt, fast alle aus der Klasse haben unterschrieben. Eine meint: "Lehrer können keine Verweise kriegen, das finde ich unfair!" Anna ist der Meinung, im Fach Kunst dürfe es eigentlich überhaupt keine Noten geben. Und Jannis sagt: "Ihr müsst ihn verstehen, er sagt einfach die Wahrheit. Wenn das Bild hässlich ist, dann ist das so. Er will euch nicht beleidigen!"

"Ich hätte vielleicht eine Lösung für das Problem"

Die Kinder diskutieren, Susanne Inkiow sitzt zwischen ihnen im Stuhlkreis, hört zu. "Die Themen sind da", sagt sie später. "Sie schwelen vor sich hin, liegen rum und sind im Weg. Im normalen Schulalltag ist wenig Raum, sie zu besprechen. Aber wenn es einmal die Woche einen Klassenrat gibt, dann ist das die Möglichkeit, über diese Themen zu sprechen und Lösungen zu finden." Sie sagt, sie möchte, dass ihren Schülerinnen und Schülern die Dinge nicht egal sind. "Es fühlt sich anders an, wenn man sich einbringen kann."

Sich einbringen, seine Meinung sagen, gehört werden: All das war Kindern und Jugendlichen während der Pandemie viel zu selten möglich. Zu den psychischen Belastungen, unter denen Kinder und Jugendliche während der Pandemie litten, kam hinzu, dass sie das Gefühl hatten, dass ihre Sorgen nicht gehört werden. Das zeigen unter anderem die JuCo-Studien der Universitäten Frankfurt und Hildesheim, bei denen junge Menschen zu ihren Erfahrungen in der Corona-Pandemie befragt wurden. In der dritten Studie im Dezember 2021 gab die Mehrheit an, den Eindruck zu haben, dass sie politische Entscheidungen nicht beeinflussen können.

Allerdings, auch das halten die Studien fest, seien auch vor der Pandemie die Beteiligungsmöglichkeiten von jungen Menschen nicht zufriedenstellend gewesen.

Im Klassenrat der 5b meldet sich nach einer Weile Protokollantin Julia. "Ich hätte vielleicht eine Lösung für das Problem", sagt sie, nachdem Präsidentin Arozo sie aufgerufen hat. "Wie wäre es denn, wenn wir den Lehrer darauf ansprechen? Vielleicht weiß er gar nicht, dass uns das verletzt, wenn er so was sagt."

Die Kinder diskutieren die Idee, finden sie gut. Nur in den Details sind sie sich noch unsicher. Sollen nur die beiden Klassensprecher Emmanouela und Moritz zum Lehrer gehen und das Thema ansprechen? Sollen alle anderen mitkommen, aber nur die beiden reden? Oder gehen sie alle zusammen und alle dürfen sagen, was sie stört?

Die Fensterbank wird vertagt

Susanne Inkiow ist überzeugt: "Wenn ich eine Stimme habe, die gehört und ernstgenommen wird, dann muss ich mich auch zu dem verhalten, was um mich herum geschieht." Die Kinder entwickeln eine andere Wertschätzung der Welt und anderen gegenüber. "Und natürlich mache ich den Klassenrat in der Hoffnung, dass sie sich später einbringen in die Welt."

Die Stunde ist fast vorbei, es wurde noch kein Beschluss gefasst. Moritz mahnt an, sie müssten gleich aufhören. Es gongt, einige springen auf. "Wir sind noch nicht fertig!", ruft Frau Inkiow. Und Arozo ruft: "Leute, leise!" Und fügt hinzu: "Ich würde sagen, wir vertagen es."

So machen sie es, schieben dann die Tische und Bänke zurück, packen ihre Rucksäcke und laufen auf den Pausenhof.

Die Fensterbänke sind nach der sechsten Stunde immer noch nicht aufgeräumt, so wie es der Beschluss des Klassenrats von vergangener Woche eigentlich vorsieht. Vielleicht nächste Woche. Wenn nicht noch was Wichtigeres dazwischen kommt.

Mit dieser Serie will die SZ Themen in den Blick nehmen, die den Alltag von Schülerinnen, Schülern und auch Lehrkräften - neben dem Unterricht - bestimmen. Drei Klassen in drei verschiedenen Schulen haben dafür Einblicke in ihre Klassenzimmer gewährt: Eine 6. Klasse der Mittelschule an der Toni-Pfülf-Straße in Feldmoching-Hasenbergl, eine 5. Klasse des Theodolinden-Gymnasiums in Untergiesing-Harlaching und eine 5. Klasse der Elly-Heuss-Realschule in Ramersdorf-Perlach. Insgesamt sechs Serienteile sind daraus entstanden, zu den Themen: Mediensucht, Heimat, Freundschaft, Verantwortung, Mobbing und Notendruck.

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