Krisentreffen in München:Reiter warnt vor Scheitern der zweiten Stammstrecke

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Der Bau der zweiten Stammstrecke hat längst begonnen. Doch bis hier endlich Züge rollen werden, werden noch viele Jahre vergehen. (Foto: Sven Hoppe)

Wie teuer wird der zweite Tunnel, wann wird er fertig? Bei Söders Krisengipfel zur S-Bahn schafft es die Bahn wieder, statt für mehr Klarheit für mehr Verwirrung zu sorgen. Münchens Oberbürgermeister hält das für riskant.

Von Heiner Effern und Klaus Ott

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) dachte erst gar nicht daran, gute Miene zum bösen Spiel zu machen nach dem Krisengipfel zur S-Bahn, zu dem Ministerpräsident Markus Söder (CSU) an diesem Mittwoch eingeladen hatte. Kaum kam Reiter bei dem anschließenden Pressegespräch zu Wort, da hagelte es auch schon vehemente Kritik an seinem wichtigsten Gesprächspartner. An Richard Lutz, dem Vorstandschef der Deutschen Bahn, dem Bauherrn der zweiten Stammstrecke.

Er könne seine Enttäuschung nicht verbergen, sagte Reiter. Man wisse jetzt nicht mehr als bisher. Wie teuer das Milliardenprojekt werde, und wann es fertig werde: alles weiter ungewiss. Er habe von Lutz auch keine Gründe genannt bekommen, warum die zweite Stammstrecke nunmehr erst 2037 statt wie zuletzt geplant 2028 fertig werden solle, ärgerte sich Reiter. Und er wolle auch nicht 2032 hören, "dass es 2050 wird".

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Was dann folgte, war eine Art Generalabrechnung mit dem Staatsunternehmen Deutsche Bahn (DB). Und eine eindringliche Warnung vor einem Scheitern des Projekts. Reiter sagte, die 400 000 Menschen, die täglich mit der S-Bahn nach München pendelten, könnte sich angesichts der vielen Pannen auf dieses Verkehrssystem nicht mehr verlassen. Jede weitere Woche der Unklarheit berge das Risiko in sich, dass der bisherige "politische Konsens" zur zweiten Stammstrecke inklusive Bau und Einbindung der geplanten U 9 bröckele. Da könnten sich dann im Stadtrat andere politische Mehrheiten ergeben.

Der Bahnchef vertröstet seine Gesprächspartner auf Oktober

Alle Beteiligten, also Stadt, Landkreise und Land, brauchen nach Reiters Worten "baldmöglichst absolute Transparenz". Doch die können Lutz und die Bahn weiterhin nicht liefern. Der Bahnchef vertröstete seine Gesprächspartner auf Oktober. Dann endlich will die Bahn nach jahrelangen Berechnungen (aufgrund von gemeinsam gewollten Umplanungen) erklären, was die zweite Stammstrecke kosten und wann sie fertig sein soll. Wobei die Bahn es auch am Mittwoch wieder schaffte, für mehr Verwirrung als Klarheit zu sorgen. Lutz sagte, die Bahn und der Freistaat seien bei ihren bisherigen Berechnungen "nicht weit auseinander".

Der Freistaat kalkuliert inzwischen mit 7,2 Milliarden Euro statt der bis vor wenigen Wochen genannten 3,8 Milliarden Euro. Wenige Stunden vor dem Besuch von Lutz bei Söders Krisengipfel hatte das bei Bayerns Bahnchef Klaus-Dieter Josel im Münchner Stadtrat noch etwas anders geklungen. Josel sagte, die Bahn habe bei den Kosten "gewisse andere Einschätzungen" als der Freistaat Bayern. Josel war dann auch bei Söders Krisengipfel dabei. Eine Bahn, zwei Stimmen, dieser Eindruck entstand jedenfalls durch die unterschiedlichen Äußerungen.

Der einzige greifbare Fortschritt am Mittwoch war der Umstand, dass überhaupt einmal leibhaftige Bahn-Manager zum Gespräch gekommen waren. Auf diesen Tag hatten viele Stadtratsmitglieder in München und die Landräte aus der Region lange gewartet. Die acht Landräte aus dem Einzugsbereich des Münchner Verkehrsverbundes hatten bereits am 15. Juli in einem geharnischten Schreiben an Söder geklagt, der Zeitverzug um neun Jahre sei eine "schiere Katastrophe".

15 Jahre auf Verbesserungen warten zu müssen, sei niemandem vermittelbar

Viele Menschen würden sich von der S-Bahn abwenden, weil diese unzuverlässig sei. 15 Jahre auf Verbesserungen warten zu müssen, sei schlicht niemandem mehr vermittelbar, geschweige denn zumutbar. Die S-Bahn müsse "zeitnah endlich besser werden", das wisse der Vorstand der Deutschen Bahn seit langem. Doch das gewünschte Gespräch mit dem DB-Vorstand sei bislang verweigert worden beziehungsweise solle zunächst nur auf Fachebene stattfinden, empörten sich die Landräte in ihrem Schreiben.

Jetzt also das Gespräch, bei dem sich Söder als Krisen-Moderator gab, der alle auf einen gemeinsamen Kurs einschwören möchte. Doch gemeinsam ist allen außer der Bahn bislang mehr oder weniger nur das Unverständnis über die Bahn. Der Ebersberger Landrat Robert Niedergesäß, der Sprecher der MVV-Landkreise, formulierte das so: "20 Jahre Planung, 20 Jahre Bauzeit, das ist schlichtweg nicht akzeptabel." Das bestehende Schienennetz, sagte Niedergesäß, sei teilweise "sehr marode". Er war nicht der einzige, der so deutlich formulierte. Und er bedankte sich bei der Bahn dafür, dass diese eine Einladung zum Gespräch vom Dezember 2021 jetzt angenommen habe; sieben Monate später.

"Ich verstehe nicht, was die Bahn die letzten Jahre gemacht hat"

Im Stadtrat zeigte man sich nach dem Besuch von Bayerns Bahnchef Josef enttäuscht und entsetzt. "Unbefriedigend und unglücklich", nannte Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) da bereits das Verhalten der Bahn. CSU-Fraktionschef Manuel Pretzl schimpfte, "wir müssen vom absurden und nicht akzeptablen Zeitplan runterkommen". Man könne nicht 15 Jahre warten, bis der zweite Tunnel fertig sein. Die Arbeiten liefen ja schon lange. "Ich verstehe nicht, was die Bahn die letzten Jahre gemacht hat", rätselte Pretzl.

Vom Stadtrat ging es für Josel weiter zu Söder, zum Krisengipfel, zu dem auch Wirtschaftsminister und Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger von den Freien Wählern geladen war. Von Aiwanger ist bekannt, dass er sich um den öffentlichen Nahverkehr auf dem Lande sorgt; dort, wo die Freien Wähler stark sind. Die zweite Stammstrecke wird nämlich maßgeblich mit Mitteln finanziert, die der Freistaat von der Bundesregierung für den öffentlichen Nahverkehr bekommt.

Die Rechnung ist ganz einfach: Je teurer die zweite Stammstrecke wird und je mehr Geld deshalb nach München fließt, desto weniger bleibt für Regionalzüge, Bahnhöfe und Strecken im übrigen Bayern übrig. Dem will Söder vorbeugen: Mit liebsten mit mehr Geld aus Berlin, von der Bundesregierung.

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Von Peter Becker, Peter Bierl, Heiner Effern, Jacqueline Lang, Barbara Mooser, Martin Mühlfenzl, Klaus Ott, Simon Sales Prado, Klaus Schieder und Florian Tempel

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