Kriminalstatistik:Immer mehr junge Münchner werden gewalttätig

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Trauriger Alltag für viele: Zwei Schüler prügeln sich auf einem Schulhof. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Der Anteil der unter 21-jährigen Verdächtigen erreicht Höchststände. Die Zahl der Kinder, gegen die ermittelt wird, ist sogar um 45 Prozent gestiegen. Die Polizei warnt vor "dysfunktionalen Familienstrukturen und Perspektivlosigkeit".

Von Martin Bernstein

Brutale Raubüberfälle mit Messern und Schraubenziehern, die als Drohmittel eingesetzt wurden, große Gruppen von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden, die diese Taten begingen: Diese Vorfälle rund um den Pasinger Bahnhof machten vor Jahresfrist Schlagzeilen - und den Menschen im Münchner Westen Angst. In der Zeit von Juli 2022 bis März 2023 registrierte die Polizei im Pasinger Bahnhofsviertel 21 Raubdelikte. Die Münchner Polizei reagierte mit massiver Präsenz und nahm bislang 29 Tatverdächtige fest. Man habe verhindert, dass sich kriminelle Strukturen verfestigen, glaubt man im Polizeipräsidium.

Mehrere Gerichtsverfahren sind inzwischen abgeschlossen, sie endeten mit Haftstrafen mit bis zu knapp fünf Jahren. Was die erfahrenen Ermittler erschreckte: Selbst nach Vollstreckung von Haftbefehlen seien Opfer und geständige Mittäter massiv bedroht und körperlich attackiert worden. "Die Gewalt nimmt zu", sagt Münchens Polizeipräsident Thomas Hampel unumwunden - das gilt freilich nicht nur für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende unter 21 Jahren.

Die Gewaltkriminalität stieg laut Kriminalstatistik im vergangenen Jahr in Stadt und Landkreis München um 8,9 Prozent. Nie zuvor in den vergangenen zehn Jahren wurden so viele junge Menschen unter 21 Jahren als mutmaßliche Räuber identifiziert. Bei der gefährlichen und schweren Körperverletzungen ist die Anzahl der tatverdächtigen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren laut Polizeipräsidium "auf dem höchsten Niveau der letzten 10 Jahre".

Ist der Anstieg der Zahlen vielleicht sogar ein positives Zeichen?

Besonders die zunehmende Gewalt an Schulen beschäftigt seit der Veröffentlichung der aktuellen bayernweiten Zahlen die Politik. Im bayerischen Landtag wurde kontrovers darüber diskutiert, ob es sich um eine allgemeine Entwicklung handle oder um ein Großstadtphänomen. Ein Blick auf die Münchner Entwicklung zeigt, wie differenziert Statistiken betrachtet werden müssen, um nicht zu falschen Schlüssen zu kommen.

Zunächst nämlich sieht es so aus, als habe sich die Kriminalität an Schulen in den vergangenen zehn Jahren überhaupt nicht verändert. Obwohl im Großraum München viel mehr junge Menschen leben als 2014, wurde exakt die gleiche Zahl von Straftaten registriert, nämlich 1089. Also keine neue Entwicklung? Offenbar doch, denn mit 307 Körperverletzungsdelikten hat sich das gewohnte Bild umgekehrt: Während drei Viertel der Delikte 2014 noch Diebstähle waren, erfolgt inzwischen fast die Hälfte der Anzeigen an Schulen wegen Körperverletzung.

Doch auch das ist offenbar nur ein Teil der Wirklichkeit. Denn laut Erwin Frankl, dem Leiter des Bereichs Kriminalitätsbekämpfung im Polizeipräsidium, hat sich die Zahl der von den Schulen an Versicherungen gemeldeten Körperverletzungen in den vergangenen Jahren kaum verändert, ist sogar leicht rückläufig. Also werden vielleicht gar nicht mehr gewaltsame Auseinandersetzungen unter Schülern verübt, sondern nur mehr angezeigt?

Dann wäre der Anstieg der Zahlen sogar ein positives Zeichen für ein geändertes Anzeigeverhalten. Frankl mag das nicht ausschließen. Man erlebe offenbar eine "Verschiebung vom Dunkel- ins Hellfeld". Die Polizei habe - nicht zuletzt durch ihre Jugendbeamten und durch verschiedene längerfristige Aktionsprogramme - einen sehr guten Blick in die Schulen, stimmt der Polizeipräsident ihm zu: "Das ist kein blinder Fleck."

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Insgesamt sind junge Menschen bis zu 21 Jahren statistisch gesehen nicht krimineller als die Erwachsenen. Ihr Anteil an der Wohnbevölkerung in Stadt und Landkreis beträgt 19,6 Prozent, ihr Anteil an den ermittelten Tatverdächtigen 20,1. Der Anstieg der unter 21-jährigen Tatverdächtigen fiel mit 9,8 Prozent sogar etwas geringer aus als das Plus bei den Tatverdächtigen insgesamt (11,6 Prozent). Dennoch kein Grund zur Entwarnung: Denn während die Anzahl der jugendlichen Tatverdächtigen laut Kriminalstatistik in etwa auf dem Niveau von vor zehn Jahren liegt, ist die Zahl tatverdächtiger Kinder im gleichen Zeitraum um 44,6 Prozent gestiegen.

Und noch eine interessante Münchner Zahl in der aktuellen Diskussion: Fast jeder vierte deutsche Tatverdächtige ist jünger als 21 Jahre (6113), bei den Tatverdächtigen ohne deutschen Pass nur jeder Siebte (3252). Allerdings steigt in der letztgenannten Gruppe der Anteil junger Straftäter derzeit stark an. 89 Kinder, Jugendliche und Heranwachsende werden von der Polizei sogar als Intensivtäter geführt, 49 von ihnen sind Deutsche.

Bis Herbst soll ein städtischer Aktionsplan stehen

Was aus all dem folgt? Repression wie im Fall Pasing ist notwendig - als alleinige Lösung taugt sie nicht. Davon ist die Münchner Polizei überzeugt. Derzeit wird ein städtischer Aktionsplan erarbeitet, an dem auch die Polizei maßgeblich beteiligt ist und der im Herbst vom Stadtrat verabschiedet werden soll. Frankl warnte bei der Vorstellung der Kriminalstatistik am Donnerstag ausdrücklich vor Pauschalisierungen: "Kriminologisch fällt auf, dass die maßgeblichen Entstehungsfaktoren von durch Jugendliche begangener Kriminalität oftmals in dysfunktionalen Familienstrukturen und Perspektivlosigkeit liegen - außerhalb des unmittelbaren Einflussbereichs der Polizei."

Die Betonung liegt auf "unmittelbar". Denn im Präsidium verfolgt man auch präventive Strategien. Man wolle "den Jugendlichen Zukunftschancen und Selbstwirksamkeitserfahrungen aufzeigen", sagt Polizeipräsident Hampel. Wie etwa am 25. Juli, als die Polizei wieder einmal mit einem Großaufgebot in der Messestadt Riem anrückte. Neben dem Pasinger Bahnhofsgebiet gilt das Viertel als weiterer Brennpunkt der Jugend-, vielleicht sogar der Bandenkriminalität, auch wenn es in den vergangenen Monaten dort ruhiger geworden ist.

Die Polizistinnen und Polizisten, unterstützt unter anderem von Bundespolizei, Zoll, Rettungsdiensten und sogar der Bundeswehr, kamen jedoch nicht zu einer Razzia oder um jemanden festzunehmen. Ihr Auftrag: "Perspektiven schaffen". Vor den Riem-Arcaden auf dem Willy-Brandt-Platz veranstaltete das Präsidium zusammen mit zahlreichen Partnern einen Berufsinformationstag. Die "Menschen hinter der Uniform" - in den vergangenen Jahren in der Messestadt mehr als einmal Ziel tätlicher Angriffe - sollten sichtbar werden. Mitten unter den Beamten, die an jenem Tag in Uniform das Gespräch suchten, war Münchens Polizeipräsident.

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