"Lange Nacht der Musik":Die Stadt lebt auf

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So voll wie bei der Langen Nacht der Musik - hier das Filmcasino - war es in München schon lang nicht mehr. (Foto: Stephan Rumpf)

Von "Best Day of My Life" bis hin zu Arvo Pärt: 12 000 Menschen ziehen bei der "Langen Nacht der Musik" von Lokal zu Lokal. Wohl selten war der Wunsch nach Live-Musik größer als nach zwei Jahren Pandemie.

Von Thomas Becker

So viel war in München schon lange nicht mehr los. Eine Stadt, eine Nacht, 60 Spielstätten, 400 Konzerte: Das sind Pi mal Daumen genau 400 mehr, als jedermann in den vergangenen zwei Jahren erlebt hat. Und das alles an einem Abend? Wie soll das denn gehen?

Nun, es geht richtig gut, es tut vor allem richtig gut, und es macht richtig viel Spaß. Nur: Wohin zuerst in diesem Überangebot von A wie Acoustic Guitar Duo Gio & Joe bis Z wie Zweitgeist? Mit dem Müttergesangverein in der Alt-Katholischen Pfarrei St. Willibrord an der Blumenstraße geht es los. Hier ist man schon tausendmal vorbeigebrettert, aber nur wenige haben vom Altstadtring aus einen Blick für das unter Denkmalschutz stehende Gebäude gegenüber der Hauptfeuerwache. Pünktlich um acht geht es in der halb vollen Kirche mit einer schmissigen "Best day of my life"-Adaption los, Chorleiterin Nicole Baumann stellt ihre sieben Mitstreiterinnen so vor: "Das ist der Rest." Das, was nach Corona von 25 singenden Müttern übrig geblieben ist.

"Alleine bewegen wir nichts, gemeinsam die Welt"

Deshalb hat man sich mit Ente39 zusammengetan, einem Frauen-Chor aus der Entenbachstraße, der bei der Songauswahl ein gutes Händchen beweist: ein portugiesisches Revolutionslied aus den 70ern, in dem es heißt "Kommt Freunde, singt! Alleine bewegen wir nichts, gemeinsam die Welt". Wenn das mal kein passendes Motto für diese Lange Nacht der Musik ist.

12 000 Besucher waren von acht Uhr abends bis zwei Uhr nachts unterwegs. Wohl selten in den vergangenen Jahren war die Idee des Wanderns zwischen den Musikwelten besser als gerade jetzt. Selig lächelnde Gesichter, und alle scheinen zu sagen: Endlich wieder! Und für nur 20 Euro! Selten dürfte das Verlangen in der Stadt nach Live-Musik stärker, nie die Bereitschaft größer gewesen sein, sich auch mal auf was ganz anderes einzulassen. Hauptsache es groovt und swingt.

Während die Gäste beim Auftritt der Band "The Red Eyes" im Kooks in der Geyerstraße stehen und tanzen... (Foto: Stephan Rumpf)
... machen es sich im Monti Monaco im Schlachthof zumindest manche an den Tischen gemütlich. (Foto: Stephan Rumpf)
Auch im Gasteig HP 8 und der Halle X wurde gefeiert, hier bei "Moon Mates". (Foto: Stephan Rumpf)

Na, dann mal raus aus der Kirche und rein ins Vergnügen! In paar Radlminuten weiter im JBL-Store in der Sendlingerstraße: der Gegenkosmos zu St. Willibrord. Geschwätzige Party-Crowd, eine Ecke mit Liegestühlen im Sandstrand, vom Getränke-Caterer eigens zum Anlass kreierte Cocktails wie der JBL Charge (Mangomark, ein Hauch Kardamom, Gin, Perlwein, Basilikum) und dazu Pop, Electro und Hip Hop im Jazz-Gewand, gespielt vom Bolandi Trio, das allerdings zu viert auftritt - ein Marketing-Gag. Amy Winehouse hat die Band gut drauf, doch die Menge hält noch Sicherheitsabstand. Bis auf ein paar zaghafte Randtänzer traut sich noch keiner. Ist ja noch früh am Abend.

Einigen Tänzern sieht man an, dass sie sich dem Parkett entfremdet haben

Wer allerdings glaubt, er bekommt um kurz vor neun noch einen Platz im Gasthaus Isarthor, irrt. In dem kleinen, knuffigen Wirtshaus spielen die Volksmusiker von Quetschnblech, ringsum fast nur Bier auf den Tischen, und aus der Küche kommt eine dampfende Leckerei nach der anderen. Wer hier einen Sitzplatz ergattert hat, wird an diesem Abend nicht viel wandern, lange Nacht hin oder her. Auf zur nächsten Spielstätte. Nach dem idealtypischen bayerischen Wirtshaus geht es in das schon sehr spezielle Ambiente der "Jahreszeiten Bar" im Hotel Vier Jahreszeiten an der Maximilianstraße. Sehr viel sehr dunkles Holz, intime Atmosphäre, noch intimere Séparés.

Die Formation Time Is Now spielt Funk, Soul und Groove, mit Verve, aber so manchem Tänzer sieht man schon an, dass er das jahrelang nicht mehr gemacht hat. Dabei kann man bei "Streetlife" doch prima aus sich raus gehen! Exakt derselbe Song läuft auf der anderen Straßenseite im Alten Hof, wo mittlerweile die Weinbar "Lump, Stein und Küchenmeister" zu Hause ist. In der Underground Bar spielt die Band Turn2Ten Reggae und Blues.

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Die Angst, etwas zu verpassen, neudeutsch Fomo (fear of missing out) genannt, spielt bei der Lange Nacht der Musik natürlich eine Rolle: Wer lange etwa vor dem Café Rischart angestanden hat, um im ersten Stock den Rock'n'Roll der Jokers Band zu erleben, aber von der Sängerin nach George Michaels "Faith" nur noch "Danke, wir machen eine kurze Pause" hört, der bleibt kaum sitzen, sondern zieht weiter, in die Burgstraße zum Garibaldi zum Beispiel. Aber auch da ist es so voll, dass man die Folk-Band Buck Roger & The Sidetrackers nur aus der Ferne sieht und noch vor der Treppe in der Provenienz Friaul hängen bleibt. Jetzt ein Glas Rotwein, das wär's! Doch zu viel Betrieb an der Theke.

Mal sehen, was nebenan im Ratskeller los ist. Da ist die Cover-Band Wutzdog angekündigt, und die wollen offenbar sehr viele Menschen hören: Über zwei der riesigen Kellergewölbe zieht sich die Warteschlange unter dem Rathaus. Drinnen im Saal gehen die Wutzdogs eher E-Gitarrenlastig über die Dörfer, aber allein die 80er-Jahre-Lichtshow ist schon ein Hingucker. Hier wird bestimmt bis zum Ende Vollgas gegeben. Ein Graubart trägt ein T-Shirt mit der programmatischen Aufschrift "Es eskaliert eh". Na dann.

Swing von Feinsten gab es beim "Monaco Swing Ensemble" im Literaturhaus. (Foto: Stephan Rumpf)
Nicht nur die Lange Nacht der Musik, sondern auch die der langen Schlangen: Nicht nur vor dem Gasteig HP 8 mussten die Menschen auf ihren Einlass warten. (Foto: Stephan Rumpf)

Höchste Zeit für den nächsten harten Schnitt: In der Theatinerkirche müsste jetzt doch die Klassik-Performance "Kathedrale aus Klang und Licht" dran sein. Gerade noch die Ausläufer dieses irren LSD-Lichttrips mitbekommen, bevor es mit Arvo Pärts wunderbarem Stück "Spiegel im Spiegel" weitergeht, das auf der Orgel allerdings gewöhnungsbedürftig ist. Noch einen Blick in den "Dinnerclub im Filmcasino" geworfen, wo das wilde Salsa-Leben tobt.

Und dann ist es aber Zeit, nach Hause zu kommen, zur Lieblingsmusik. Die läuft an diesem Abend im ebenfalls vollen Literaturhaus und wird gespielt vom fabelhaften Monaco Swing Ensemble. Django Reinhardt, Swing von Feinsten. Genug gewandert, hier wird jetzt erst mal Station gemacht, kühles Getränk dazu, und alle Sensoren in den Aufsauge-Modus! Das Leben ist gut.

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