Protest:Für die einen engagierter Bürger, für die anderen Querulant

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Wolfgang Hesse will nicht aufgeben. (Foto: Catherina Hess)

Der Pensionär Wolfgang Hesse könnte seinen Lebensabend genießen. Doch er versucht lieber, längst beschlossene Projekte aufzuhalten. Den Abriss des Hauptbahnhofs etwa.

Von Julian Hans

Überstürzt. Auf dem Flugblatt, das Wolfgang Hesse Anfang Mai verteilt, steht das Wort in Alarm-Rot auf gelbem Grund und in Großbuchstaben: "Der Hauptbahnhof München soll ÜBERSTÜRZT abgerissen werden!" Es ist der Tag, an dem die alte Schalterhalle geschlossen und damit gleichzeitig die größte Baustelle in der Landeshauptstadt offiziell eröffnet wird.

Seit drei Jahrzehnten wird über eine neue Stammstrecke debattiert. Vor 15 Jahren wurde der Architektenwettbewerb für den neuen Bahnhof entschieden. Vor vier Jahren hat der Stadtrat der Bahn die Genehmigung erteilt. Jetzt spielt eine Blaskapelle symbolisch ein Abschiedslied für das alte Gebäude. Und Wolfgang Hesse ist wütend. Eine falsche Entscheidung! Ein überstürzter Abriss! Die Gegner reichen Klage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof ein.

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Wolfgang Hesse, 75 Jahre, drei Kinder, fünf Enkel, hat allen Grund, zufrieden auf ein erfülltes Leben zurückzublicken. Als Informatik-Professor hat er in Marburg gelehrt, zusammen mit seiner Frau lebt er in einer schönen Neubauwohnung in Bogenhausen. Im Wohnzimmer ein schwarzer Flügel, in den Bücherregalen alles, was einen offenen Geist in den vergangenen Jahrzehnten bewegt hat. Er könnte jetzt das tun, was man gewöhnlich unter "seinen Lebensabend genießen" versteht. Reisen, Lesen, sich an den Enkeln freuen, vielleicht ein bisschen was im Garten machen.

Aber Wolfgang Hesse kämpft. Er marschiert auf Demonstrationen, er hält Plakate hoch, er hält Reden, schreibt Flugblätter und Leserbriefe und streitet sich mit Politikern, mit der Bahn und mit anderen Bürgern. Wenn man ihn besucht, trifft man keinen verbissenen oder zornigen alten Mann, sondern einen freundlichen, gut gelaunten. Einen Menschen, der mit sich im Reinen zu sein scheint, der aber auch meint, eine Mission zu haben. Hesses Mission ist der integrale Taktfahrplan.

Die meisten Menschen erinnern sich noch an ihren ersten Kuss, ihr erstes Glas Bier, den ersten Zug an einer Zigarette. Wolfgang Hesse erinnert sich, wie er das erste Mal einen Fahrplan der Bahn in der Hand gehalten hat. Acht Jahre war er alt, sein Vater saß am Schreibtisch und hatte einen Taschenfahrplan aufgeblättert. Die Zahlen, die Tabellen, die Geografie von Eisenbahn-Ingenieuren erschlossen. "Das hat mich so fasziniert, dass ich zum Kursbuch-Fan geworden bin", sagt er.

Den Dialekt seiner Geburtsstadt Halle hat er bis heute behalten, obwohl er erst zwölf Jahre alt war, als seine Eltern wegzogen aus der DDR, um in Bielefeld noch einmal von vorne anzufangen. Im freien Westen. Die Mauer war da noch nicht gebaut. Andere Kinder, die in der DDR aufgewachsen sind, erinnern sich an die Freude über eine Jeans aus dem Westen. Sein schönstes Westgeschenk war ein Kursbuch der Bundesbahn, das ihm ein Onkel mitgebracht hat. Er hat auch jetzt im Keller noch einige Kursbücher liegen. "Ab und zu, wenn ich Zeit habe, schmökere ich darin", gibt er zu.

Zeit hätte er jetzt eigentlich. Seit zehn Jahren ist er in Pension. Aber die Ruhe gönnt er sich selten. Er lehrt jetzt im Seniorenstudium der LMU Informatik und Musik. Er hält Vorträge im ganzen Land über den integralen Taktfahrplan, bei dem nicht jede Linie einzeln geplant wird, sondern die Taktzeiten unterschiedlicher Strecken aufeinander abgestimmt werden und Züge immer im Halbstunden- oder Stundentakt fahren. Die Schweiz hat das Modell in den Achtzigerjahren per Volksabstimmung eingeführt, anstelle einer Schnellbahnstrecke. Schweiz-Besucher schwärmen davon.

Es gab noch ein anderes Schlüsselerlebnis im Leben von Wolfgang Hesse. Viele Jahre später, am Ende seines Berufslebens: Stuttgart 21. "Ein Irrsinn sondergleichen! Für zehn Milliarden oder mehr wird die Bahninfrastruktur, die unsere Vorväter aufgebaut haben, zurückgebaut. Das regt mich heute noch auf." Die Lesebrille ist ihm jetzt weit vor auf die Nasenspitze gerutscht. Die Bahn ist Hesses Herzensthema. Mehr als zwei Jahrzehnte ist er gependelt zwischen der Uni in Marburg und der Familie in München.

In Stuttgart ist er nicht mehr allein, sondern Teil einer Massenbewegung. Eine ganze Stadt voll wütender Schwaben wehrt sich gegen die Pläne der Bahn. Hesse fährt zu den großen Demonstrationen, an kalten Dezembertagen harren Hunderte im Regen aus, wenn er auf der Bühne spricht. Als Experte nimmt er an den Schlichtungsgesprächen teil.

Aber dann kommt die Volksabstimmung und der Bahnhof wird doch gebaut. In einer leicht modifizierten Variante zwar, aber für Hesse immer noch falsch, viel zu teuer und vor allem: nicht geeignet für den integralen Taktfahrplan. Eine Handvoll Unversöhnlicher will sich damit nicht abfinden. Hesse ist dabei, entwirft Pläne, wie der Bau noch gestoppt und anders genutzt werden könnte. Der demokratische Entscheidungsprozess ist abgeschlossen, der Rechtsweg ausgeschöpft, alle Schlachten geschlagen. "Das ist nicht unumkehrbar!", hält er dagegen. "Die Leute müssen zur Besinnung kommen!" Er wolle nicht demokratische Entscheidungen infrage stellen, "aber wenn etwas falsch ist, muss man das Projekt auf den Prüfstand stellen".

Einige sagen, wegen Leuten wie Wolfgang Hesse geht in Deutschland nichts mehr voran. Kein Bauvorhaben, das nicht von einer Bürgerinitiative ausgebremst würde, die irgendeine seltene Tierart findet oder einen Kniff beim Denkmalschutz. "Schaut nur nach China", sagen solche Leute. "Da werden in der gleichen Zeit ganze Städte gebaut!" Andere sagen, Menschen wie Wolfgang Hesse halten unsere Demokratie am Leben. Eine Demokratie, die es in China gar nicht gibt.

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Aber warum gehen manche noch nicht einmal zur Wahl und andere engagieren sich mit Haut und Haar gegen einen Bahnhof oder für einen Park, als wäre es ihr Lebensinhalt? Klaus Bäumler kennt sich aus mit Bürger-Engagement in München. Der ehemalige Richter am Verwaltungsgericht war Jahrzehnte lang Vorsitzender im Bezirksausschuss der Maxvorstadt. Mit dem Münchner Forum unterstützt er Bürger dabei, sich in die Stadtplanung einzubringen.

Spontan fällt ihm gleich ein halbes Dutzend Beispiele ein, wie Vorhaben, die bereits beschlossen waren, doch noch gestoppt werden konnten. Der Bebauungsplan für die Staatskanzlei war bereits rechtsverbindlich, als bei einer Untersuchung des Baugrunds auffiel, dass das alte Hofbrunnwerk übersehen worden war, und das Bundesverwaltungsgericht kippte die Pläne für die Flügelbauten. 2014 war der Abriss der Gebäude in der Müllerstraße 2-6 per Stadtratsentschluss entschieden. Dann stellte sich heraus, dass eine Genehmigung für die Zweckentfremdung fehlte. Heute ist dort das Bellevue di Monaco, ein Begegnungsort geschaffen von Bürgern, die nicht aufgegeben haben.

Deshalb findet es Bäumler falsch, die Bahnhofsgegner als Querulanten zu diffamieren. "Die Bürger haben ein Recht darauf, für ihre Überzeugung einzutreten", sagt er. "Sie sollten nicht aufgeben, auch wenn es aussichtslos erscheint." Der Erfolg hänge eben oft von Zufällen ab. Wer weiß, wenn im Bahnhof doch noch eine Haltestelle für die U 9 untergebracht werden soll, ob ein neues Planfeststellungsverfahren dann nicht doch wieder alles über den Haufen wirft?

"Besserwisser-Professor": Hesse ärgert sich über solche Kommentare

Wolfgang Hesse glaubt nicht, dass es den Entscheidern um den Verkehr geht. Es gehe um Wirtschaftsinteressen, die Interessen der Immobilienentwickler und großer Tunnelbau-Unternehmen, ist er überzeugt. Aber was mache ich, wenn ich weiß, dass ich die besseren Argumente habe, aber doch überstimmt werde? 99 Prozent der Wähler sind nun einmal keine Infrastruktur-Experten. "Man muss im Vorfeld besser informieren", sagt Hesse. Es sei absurd, dass der Ausbau einer bestehenden Bahnstrecke genauso teuer sein soll, wie ein Tunnelbau: "Da brauche ich kein Infrastrukturexperte zu sein, um zu sagen, dass das nicht mit rechten Dingen zugeht."

Wenn andere ihn einen Querulanten nennen, kränkt ihn das. Seine Kritik sei doch konstruktiv. Briefe und Mails unterschreibt er mit seinem vollen Titel: Prof. Dr. Wolfgang Hesse. Aber als er neulich einer Zeitung ein Interview gegeben hat und hinterher las, wie Leser in den Online-Kommentaren über den "Besserwisser-Professor" lästerten, da hat er sich geärgert.

Manchmal gibt es auch kleine Erfolge. Als die geplante Privatisierung der Bahn abgesagt wurde etwa. Das lag zwar an der Finanzkrise und nicht an seinem Protest, aber trotzdem: "Wie Mehdorn gehen musste, da habe ich eine Spontanparty gegeben." Wenn Stuttgart 21 stirbt, will er wieder eine Party machen. "Und wenn der Münchner Tieftunnel abgesagt wird und ich noch fit dafür bin, mache ich auch eine Spontanparty, da lade ich alle ein, die mich unterstützt haben, das verspreche ich."

Vor einigen Wochen hat Verkehrsminister Andreas Scheuer den "Deutschlandtakt" angekündigt, einen abgestimmten Fahrplan, bei dem die Züge alle 30 Minuten fahren. Das klingt wie Hesses integrierter Taktfahrplan, aber Hesse traut dem Minister nicht. Die Bundeskanzlerin hält er für vernünftiger. Die Bahn sei wohl nicht Merkels Thema, aber bessere Berater könnte sie gebrauchen. "Ich würde den Job noch heute antreten."

© SZ vom 29.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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