Fußball-EM in Corona-Zeiten:"Wenn man hier eskaliert, kriegt man komische Blicke ab"

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Fußball. Endlich wieder. Französische und deutsche Fans vor dem EM-Spiel in München. (Foto: Florian Peljak)

Wie fühlt es sich an, nach einem Jahr wieder Fußballfan sein zu können? Beim ersten EM-Spiel der DFB-Elf geht es in München ruhig zu - was auch an der deutschen Niederlage liegt. Fürs gelockerte Leben steht es 1:0.

Von Thomas Becker und David Wünschel

Harry Becker weiß genau, wann er zum letzten Mal nicht hier war: "Bayern gegen Augsburg, 3. März 2020. Da bin ich nach 25 Jahren zum ersten Mal nicht ins Stadion", erzählt der Dauerkarten-Besitzer. Auch ohne dass das C-Wort fällt, ist klar, warum er daheim geblieben ist: "Das war mir schon zu kitzlig." Seit 60 Jahren pilgert der 71-Jährige zum Fußball, hat seinen Bayern im Grünwalder und im Olympiastadion zugejubelt, war bei Champions-League-Finals in London und Paris, bei der 90er-WM in Italien. Aber vor dieser Seuche hat er Reißaus genommen.

Die Vorsicht scheint in der Familie zu liegen: Die Karte fürs Frankreich-Spiel hat er von seinem Sohn: "Der ist noch nicht zwei Mal geimpft - ich schon." Und so sitzt er nun zwei Stunden vor Spielbeginn im Schatten vor den Eingangstoren der Arena und wartet auf seinen Slot. Denn einfach mit der Karte in der Hand reinspazieren: Das ist bei dieser EM nicht drin. Ohne Smartphone, QR-Code fürs Ticket und den Nachweis eines negativen Corona-Tests kommt keiner rein.

Harry Becker hat alle Hürden genommen: "Es war schon zeitaufwendig, aber insgesamt ausgesprochen gut organisiert. Nur die Stimmung ist halt leider nicht wie üblich." Damit hat der ältere Herr die Umstände des ersten EM-Spiels am Standort München schon treffend charakterisiert.

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(Foto: Florian Peljak)

In der Stadt und vorm Stadion sind Menschen mit deutschen und französischen Trikots unterwegs - oder sagen wir: französischer Verkleidung.

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Ohne ein bisschen Pyro scheint es nicht zu gehen: Rauch in den französischen Nationalfarben steigt in der Innenstadt auf.

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An der Arena tragen einige Fans die klassischen Ringel-Shirts, Baskenmütze - und Fahnen statt Baguettes. Unklar, ob Letztere im Stadion überhaupt erlaubt wären.

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Das mit dem Abstand klappt nicht in jedem Moment, das muss man wohl zugeben.

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(Foto: Florian Peljak)

Was dieser Fan wohl gerade denkt? "Lieber lieber Fußball-Gott, bitte mach, dass ..."

Dafür, dass vor ein paar Wochen noch unklar war, ob und wie viele Zuschauer ins Stadion dürfen, lief Match eins aus organisatorischer Sicht recht unproblematisch. Am Marienplatz gibt es abends um sechs viele deutsche und französische Trikots beim Vorglüh-Bier zu sehen, doch ins Gehege kommt man sich nicht, was womöglich an den vielen Polizisten liegt, die vor lauter Ausrüstung beim Gehen nur so quietschen.

Auch die "Mobility maker" eines DFB-Sponsors mit ihrem Info-Radl haben es eher gemütlich, müssen meist Fragen zum nächsten Corona-Testzentrum beantworten - und zum MVV. Undankbar, weil meist Franzosen fragen. "Das hätte man mit dem Ticket verbinden können", meint einer der Mobilitäts-Macher, "und was internationale Beschilderung angeht, hat München auch noch Luft nach oben."

Man muss dem Mann recht geben. Unten in der U-Bahn heißt es: "Dieser Zug fährt nicht zur Fußball-Arena." Alles klar, liebe Gäste? "Die Welt zu Gast bei Freunden"? Das war 2006. Dafür tragen die Ordner am Gleis schwarz-rot-goldene Masken. Wer ko, der ko. Zweieinhalb Stunden vor Anpfiff sind die Wagen dank Zweieinhalb-Minuten-Takt fast so leer wie sonntags in der Früh. Kein Gegröle, kein Alkoholdunst, keine Gequetsche, was die 24 Minuten Fahrt bis Fröttmaning bei Bayern-Spielen zum Spießrutenlauf machen kann.

Dafür kommt es vor dem Stadion im Münchner Norden zu Staus auf den Autobahnauffahrten. Zahlreiche Besucher fahren offenbar mit dem eigenen Auto zur Arena, in der irrigen Annahme, dort Tickets für eines der Parkhäuser kaufen zu können. Parkberechtigungen hatten Karteninhaber jedoch im Vorfeld online bestellen müssen. Es zieht sich.

Schon beim Einbiegen auf die Esplanade Richtung Arena fällt das neue Windrad im Norden ins Auge, das nun jedes Ich-vorm-Stadion-Selfie verhunzt. In zartem Himmelblau gekleidete Volunteers sitzen auf Hochstühlen und krähen ins Megafon: "Vergesst nicht Bluetooth einzuschalten, damit ihr auch ins Stadion reinkommt." Eintrittskarten aus Papier sind die Ausnahme, fast alle haben ihr Ticket im Handy, aber die Karte muss aktiviert werden.

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(Foto: Florian Peljak)

Wie eine dünn bewanderte Ameisenstraße zieht sich der Strom der Besucher am Tag des EM-Spiels Deutschland-Frankreich vor dem Stadion dahin.

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(Foto: Florian Peljak)

Vor dem Einlass gelten klare Abstandsregeln - auch sonst sind die Abläufe sehr genau getaktet.

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(Foto: Florian Peljak)

Für die Polizei gehört dieser Einsatz in München eher zu den ruhigeren Diensten.

Dann gibt's einen QR-Code, dann erst klappt es mit dem Einlass. Wenn man sich zuvor noch das gelbe Armbändchen organisiert hat, als Nachweis für einen negativen Corona-Test. Wer einen Himmelblauen erwischt, auf dessen Täfelchen Test-Validation steht, und wer seinen Test über die Corona-Warn-App hochgeladen hat, der kriegt ein gelbes Band. Wer den Test in Papier-Form dabei hat, muss sich im sogenannten Canyon an einem der Schalter anstellen. Und wer keinen Test hat, bekommt ihn ein paar Meter weiter in einem der Parkhäuser. Klingt umständlich, ist es auch. Lange Schlangen sind aber die Ausnahme: Nur da, wo es das sogenannte Mobility-Shirt umsonst gibt, staut es sich.

Ansonsten sind die Menschen, die Richtung EM marschieren - bis auf ein paar Verzweifelte ("Hier ist keiner, der uns sagt, wo wir hinmüssen") -, allesamt gut drauf. Familie Habersack aus dem unterfränkischen Dingolshausen zum Beispiel. Weihnachten 2019 lagen die Tickets für die drei Jungs unterm Christbaum, aber erst vor zwei Wochen kam die Nachricht, dass die ganze Familie ins Stadion kann. "Obwohl wir die höchste Inzidenz in der Gegend hatten", ruft Papa Habersack fröhlich. Wenn das Harry Becker gehört hätte.

Rund ums Stadion bleibt es nach Polizeiangaben an diesem Dienstagabend weitgehend ruhig, auch nach Abpfiff. Es reicht ja die Aufregung um die missglückte Greenpeace-Aktion samt Bruchlandung eines Gleitfliegers und zwei Verletzten. Das Spielergebnis - Deutschland verliert 0:1 - hat offenbar seinen Anteil daran, dass wildere Feiern auf der Leopoldstraße und an anderen Orten in der Stadt ausbleiben. Aber immerhin: Nach monatelanger Corona-Auszeit darf wieder gefeiert werden.

Greenpeace-Aktion
:Bruchlandung im EM-Stadion

Ein Greenpeace-Aktivist muss kurz vor Anpfiff des EM-Spiels zwischen Deutschland und Frankreich mit einem Motorschirm mitten im Stadion notlanden. Zwei Menschen werden verletzt - es hagelt Kritik von allen Seiten.

Im Kilian's an der Frauenkirche kommt der größte Jubel schon vor dem Spiel auf. Ein Mitarbeiter von Pro Sieben bittet die Gäste, für die Kamera mal ordentlich Stimmung zu machen. Einige Hände schießen in die Höhe, es wird kurz laut - dann ist es schon wieder ruhig.

Und so bleibt es weitgehend auch während des ganzen EM-Auftaktspiels der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich - nicht nur im Irish Pub, sondern in der gesamten Münchner Innenstadt. Außer der Corona-Pandemie vermasselt vor allem der Spielverlauf an diesem Abend die große Fußball-Party. Schon vor dem Spiel sind an manchen Straßenecken deutlich mehr Polizeiuniformen als Deutschland-Trikots auszumachen. Selbst rund um das Siegestor - eigentlich die inoffizielle Münchner Feiermeile bei Welt- und Europameisterschaften - bleibt die Stimmung verhalten.

Patrick ist einer der wenigen, die hier im DFB-Dress unterwegs sind. "In den letzten Jahren war deutlich mehr los", sagt der 20-Jährige, als er vor dem Spiel am Springbrunnen vor der Ludwig-Maximilians-Universität auf seine Freunde wartet. Gemeinsam wollen sie die Partie im Seehaus im Englischen Garten verfolgen. Patrick tippt zwar auf einen Deutschland-Sieg, will aber unabhängig vom Ergebnis nach dem Spiel auf der Leopoldstraße feiern.

Nicht ganz so euphorisch sind Sarah und Sebastian, die sich die Begegnung im Kilian's anschauen. "Wenn man sich nicht dafür interessiert, dass hier in München Spiele sind, hätte man das gar nicht mitbekommen", sagt Sebastian. Schließlich gebe es in der Innenstadt weder Banner noch eine Fanzone. Richtige EM-Stimmung will während der ersten Halbzeit dann auch im Kilian's nicht aufkommen.

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Im Irish Pub wird mitgefiebert: Das EM-Spiel der DFB-Elf bietet Momente der Hoffnung ...

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... und der Ernüchterung.

Die Tische stehen weit auseinander, die Gäste unterhalten sich in ihren Gruppen, Fangesänge bleiben aus. Es ertönen sogar einige Pfiffe und Buhrufe, als Mats Hummels in echter Stürmermanier den Ball zum 0:1 ins eigene Tor bugsiert. Und aus den Sitzen reißt es die Gäste höchstens, wenn sie auf die Toilette müssen.

Etwas lauter und deutlich enger geht es im Hirschau im Englischen Garten zu. Die Tische sind voll besetzt, auf den Treppenstufen sitzen die Leute dicht an dicht und immer wieder schallt ein "Allez les Bleus" durch den Biergarten: Ein einsamer französischer Fan hat sich eine Tricolore umgewickelt und feiert die Führung seiner Mannschaft. Einige deutsche Fans entgegnen ihm ein langgezogenes "Schlaaand", aber nur wenige stimmen mit ein.

Einer von ihnen ist Maurice. "Die Leute sind noch im Corona-Trott", sagt der 20-Jährige, "die fühlen es einfach nicht". Maurice ist gemeinsam mit sechs Freunden aus der Schulzeit hier. Auf ihrem Tisch stehen mehr als ein Dutzend leere Bierkrüge. Einer von Maurice' Freunden stimmt mehrere Male einen Fangesang an, den bis auf seine Tischnachbarn aber kaum jemand aufnimmt. "Wenn man hier eskaliert, kriegt man ein paar komische Blicke ab", sagt Maurice. Trotzdem könnte sich die Stimmung noch drehen, glaubt Maurice - wenn Deutschland denn endlich ein Tor schießen würde.

Doch dazu kommt es nicht mehr; im Hirschgarten bleibt es bis zum Spielende recht ruhig. Als der Schiedsrichter die Partie abpfeift, wehen noch mal kurz einige Deutschlandfahnen über den Köpfen, dann ziehen die meisten Fans ihre Masken auf und verlassen die Tische. Selbst am Siegestor kommt keine Menschenmasse mehr zusammen. In einer Bar grölen zwar noch einige Fans; es sind allerdings keine glückseligen Franzosen, sondern eine Gruppe betrunkener Deutscher. Die meisten Polizisten stehen arbeitslos an ihren Straßenecken und schauen zu, wie die Fans nach Hause fahren.

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