Alkoholverbot in München:Austrinken, bitte!

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Weiter erlaubt - wenn die Abstände stimmen: Ein Sonnenuntergangsschluck auf der Münchner Hackerbrücke. Von 23 Uhr an aber ist auch dort Alkohol jetzt erst mal tabu. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Wegen Corona darf auf öffentlichen Plätzen ab 23 Uhr jetzt kein Alkohol mehr getrunken werden. Wirklich schlimm ist das nicht - aber ein Kulturbruch: Das Trinken unter freiem Himmel wird in München zelebriert wie sonst kaum wo.

Essay von Franz Kotteder

Nun ist es also da, das Undenkbare. Das Schreckliche, das sich keiner vorher ausmalen wollte. Verfolgt man die Debatten der letzten Tage, dann drohte der Stadt neue, noch größere Unbill als in den vergangenen Monaten schon, nach dem Lockdown und nach der Absage der Wiesn. Die magische Zahl lautete 35. Sie besagt, dass über sieben Tage hinweg - sieben, welch eine bedeutungsschwangere Zahl in allen großen Mythen und Kulturen dieser Welt! - sich unter Hunderttausend eben jene Menge Menschen neu angesteckt haben. Doch der Schrecken, er liegt hier nicht in der Zahl der von der Pandemie Erfassten. Denn die 35 besagt: Man darf dann von 21 Uhr an keinen Alkohol mehr "to go" erwerben. Und schlimmer noch: Um 23 Uhr ist es auch noch verboten, ihn auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen zu trinken!

Tatsächlich, darüber erregen sich die Menschen offenbar am meisten in der Stadt. Kaum einmal über die Leute, die ihren Rüssel über den Mund-Nasen-Schutz hängen in der S-Bahn, selten auch über die Bußgelder, die dann fällig werden könnten - nein, das mögliche Verbot des Konsums von Bier, Wein, Spirituosen, nachts auf der Straße erhitzt die Gemüter so gewaltig. Da findet dann selbst Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) für seine Verhältnisse fast schon kleinlaute Worte, als er den drohenden Zwangsentzug für nächtliche Trinker ankündigt. Man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, sagte er, aber es sei darum gegangen, noch einschneidendere Maßnahmen wie die Schließung von Schulen zu vermeiden.

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Klingt also recht dramatisch, so ein Alkoholverzicht. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass die Münchner ein recht versoffenes Völkchen sind. Damit fände zweifellos ein altes Vorurteil seine Bestätigung: dass die bayerische Landeshauptstadt die Heimat jener sei, die aus viel zu großen Humpen viel zu viel Bier in sich hineinschütteten und sonst zu keinen weiteren großen Regungen fähig sind. Seppeln halt und Bierdimpfl, die in einem zu groß gewordenen Kuhdorf zu Hause sind, in dem man eh nichts anderes tun könne, als sich zu betrinken. Hört oder liest man manchen Debattenbeitrag, dann könnte da sogar was dran sein.

Aber das ist in Wahrheit "blühender Blödsinn", wie Franz Josef Strauß es wohl formuliert hätte. Zwar sind die Bayern ganz gut dabei, wenn es um die Produktion und den Konsum von Bier geht. Viele Jahrzehnte lang waren sie dabei jedoch hinter Nordrhein-Westfalen. Heute liegt der Pro-Kopf-Verbrauch im Jahr angeblich bei 135 Liter. Freilich ist das noch kein Vergleich mit Tschechien, dort sind es 191,8 Liter. Und was Alkohol generell angeht, stechen die Bayern nicht besonders hervor.

Eher im Gegenteil. Eine Statistik des Deutschen Krebsforschungszentrums über Todesfälle, die durch Alkohol bedingte Krankheiten entstanden, sieht Bayern sogar am unteren Ende der Skala. Bei den Männern, die immer schon die schlimmsten Trinker stellten, liegt die Todesrate bei knapp 20 von 100 000 Fällen, in Mecklenburg-Vorpommern sind es hingegen mehr als 60, in Sachsen-Anhalt fast 66.

"Leit, saufts ned so vui, trinkt's lieber a Bier!", empfahl Karl Valentin seinen Mitbürgern

Woher kommt denn dann der Ruf der Bayern und speziell der Münchner, die Sauferei so wichtig zu nehmen? Selber schuld, muss man sagen. Der Ruf der Bierstadt ist hausgemacht. Etwa seit dem Mittelalter war Bier ein Grundnahrungsmittel, weil es einfach das gesündeste Getränk war. Normales Wasser war sehr häufig durch Keime verunreinigt, alkoholhaltige Getränke hingegen waren es nicht. Hinzu kam im 19. Jahrhundert dann mit den technischen Neuerungen der Kühltechnik die Möglichkeit, Bier länger haltbar zu machen und leichter zu exportieren. Zusammen mit dem Oktoberfest entstand so einer der größten Marketing-Erfolge jener Zeit: München als Heimat des Bieres, ja als stein- beziehungsweise ziegelgewordene Verkörperung des Bieres schlechthin. Das reicht letztlich bis zur freundlichen Ermahnung von Karl Valentin, der seinen Mitbürgern riet: "Leit, saufts ned so vui, trinkt's lieber a Bier!"

Flankiert wurde der Mythos von der Bierstadt übrigens durch den Mythos Tracht, der ja ebenfalls bis heute nachwirkt, speziell auf dem "Munich Beer Fest", dem größten Volksfest der Welt. Die Nationaltracht aus Dirndl und Lederhose war die Erfindung eines Wittelsbacher Herzogs, der niemanden zu beherrschen hatte und dem deshalb wohl ein bisschen langweilig war. Als "Zither-Maxl" ging er in die Geschichte ein und als großer Förderer der Trachtenmode, die für ihn tiefster Ausdruck des bayerischen Nationalcharakters war. Während es das Volk noch ganz banal für das Arbeitsgewand der Menschen auf dem Lande hielt.

Schon in der Tradition gibt es also anscheinend genug Gründe, um sich über das Alkoholverbot zu erregen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Von Alkohol bekommt man schließlich kein Corona. Das weckt den Verdacht, man wolle persönliche Freiheiten einschränken, rein aus Schikane. Oder lärmgeplagten Anwohnern Ruhe verschaffen. Letzteres, darf man vermuten, mag für den einen oder anderen Stadtrat ein angenehmer Nebeneffekt sein. Aber man muss auch sehen: Wer zu viel trinkt, wird unvernünftig und macht Sachen, die er sich nüchtern zweimal überlegen würde. In der eher harmlosen Variante singt er dann zum Beispiel auf der Wiesn, auf Malle oder in Ischgl komplett bescheuerte Liedtexte mit, die zu kennen er sich schämen würde, stünde er nicht unter Alkoholeinfluss.

Sehr viel schlimmer ist freilich, was sonst eher erwünscht ist: dass Hemmungen schwinden und man sich leichter nahe kommt. Ganz schlecht in Corona-Zeiten! Deshalb bringt Alkoholverbot etwas, wenn es um social distancing geht. Weil viele sich sagen: Wenn ich schon nichts trinken darf, kann ich ja gleich daheim bleiben. Und kleinere Ansammlungen von Menschen sind eben auch ungefährlicher. Weshalb es auch nicht gar so viel ausmacht, wenn die Menschen jetzt halt nach 23 Uhr in eine Wohnung zum Weitertrinken gehen. 200 Leute oder mehr passen da ja selten mal rein.

Freilich sind Einschränkungen immer ärgerlich, aber mit so etwas muss man bei einer Pandemie rechnen. Und man muss gewiss jetzt auch wieder rechnen mit der Kleinlichkeit von Amtspersonen und mit Wichtigtuerei. Sicher wird es hohe Bußgeldbescheide geben für einsame Menschen, die ganz allein an der Isar mit einer Bierflasche aufgestöbert wurden und überhaupt keine Chance hatten, irgendjemanden durch Ansteckung zu gefährden.

Ansonsten sind die Widrigkeiten durch das Verbot überschaubar. Es herbstelt ja bereits, und draußen wird es gegen Mitternacht langsam ungemütlich. Im Winter braucht man im Freien um diese Zeit höchstens noch einen Schnaps zum Aufwärmen. Es ist dann womöglich auch zu verschmerzen, dass es am Reichenbachkiosk nach 21 Uhr nichts Alkoholhaltiges zu trinken mehr gibt (außer für den Inhaber des Reichenbachkiosks natürlich). Womöglich wird man lernen müssen, vorausschauend zu trinken - oder eben rechtzeitig einen Supermarkt aufzusuchen, um so viele Getränke zu erwerben, dass sie bis 23 Uhr reichen. So etwas soll möglich sein.

Bleibt noch das Argument, speziell junge Menschen versammelten sich halt gerne im Freien, weil sie dort nicht teure Getränke kaufen müssten wie in Gaststätten. Das ist nicht ganz falsch. Ihnen wird der Spaß jetzt etwas vergällt, jedenfalls von 23 Uhr an, denn zu nahe sollten sie sich ja auch bisher schon nicht kommen. Wobei das Argument mit den günstigen Getränken nicht überall zählt, aber speziell nicht in der Partyzone Gärtnerplatzrondell. Da tun die Feiernden so, als ob sich dort die gesamte verarmte Jugend aus den Vorstädten allabendlich versammelt, weil die Alkoholika in den angrenzenden Kneipen so konkurrenzlos billig sind. Dabei gelten die Getränkepreise in der Innenstadt der Verwaltung alle Jahre wieder als Gradmesser dafür, ob die Preise für das Wiesnbier noch angemessen sind.

Dennoch: Die Münchner nehmen ihren Ruf als Stadt des Trinkens ernst, regelmäßig gab es über die Jahrhunderte hinweg Volksaufstände, wenn der Bierpreis stieg. Und vor 25 Jahren eine höchst erfolgreiche "Biergartenrevolution", als diese wegen Anwohnerbeschwerden früher schließen sollten. Die Politik ist also gut beraten, Vorsicht walten zu lassen.

Und so zählt nun auch das Alkoholverbot zu den großen Ärgernissen dieser Stadt. Als ähnlich katastrophal würde man es wohl empfinden, wenn der FC Bayern einmal nicht Meister geworden ist, in der Maximilianstraße eine Aldi-Filiale eröffnet oder BMW an der Dividende spart. Drei Dinge, die man in München bestenfalls dann akzeptieren könnte, wenn Stephen King sich das für einen seiner Horrorthriller ausgedacht hat. Wirklich schlimm ist das Alkoholverbot aber nicht, und das werden auch die Münchner bald merken.

© SZ vom 29.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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