Kunstausstellung "Materializing":Die verschwundene Stadt

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Elżbieta Janicka & Wojciech Wilczyk, "Großes Ghetto. Blick von der Solidarności-Allee 64 in Richtung Südwesten - 15. April 2011", aus der Serie "The Other City" (Foto: Courtesy of the artists & Zacheta National Gallery)

Das NS-Dokumentationszentrum in München zeigt Arbeiten polnischer Künstler, die sich mit den materiellen Spuren des Warschauer Ghettos und der Shoah beschäftigen.

Von Jürgen Moises

Wer in Warschau nur tief genug im Boden gräbt, der stößt früher oder später dort auf die Vergangenheit. Das heißt auf die Umrisse alter Gebäude. Auf die Pflastersteine jener früheren Stadt, die dort vor 1939 existiert hat. Zu dieser Stadt gehörte das Warschauer Ghetto, das genauso wie andere Stadtteile im Zweiten Weltkrieg niedergebrannt oder auf andere Art vernichtet wurde. Nach dem Krieg wurde die polnische Hauptstadt wieder aufgebaut, vom früheren jüdischen Viertel sind aber nur noch kärgliche Spuren übrig. Damit diese zu historischen Zeugnissen werden, braucht es die aktive Erinnerungsarbeit von Zeugen, Historikern, Kuratoren oder Künstlern, die das wenige vorhandene Material zum Sprechen bringen.

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Genau das passiert aktuell im NS-Dokumentationszentrum München, wo die Ausstellung " Materializing. Zeitgenössische Kunst und die Shoah in Polen" zu sehen ist. Gezeigt werden sieben künstlerische Positionen, die sich auf ihre jeweils eigene Art der Verdrängung des Holocaust entgegenstellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle auf einer gründlichen Recherche basieren und damit zuweilen die Aufgaben der Archäologie oder Wissenschaft übernehmen. Viele arbeiten mit Original-Texten oder Artefakten. Manche machen das ganz direkt wie Natalia Romik, die in ihre Arbeit architektonische und andere physische Fragmente einbezieht. Andere wie Wilhelm Sasnal, Zuzanna Hertzberg oder Paweł Kowalewski nutzen Gemälde, Plakate oder Fotografien.

Zuzanna Hertzberg, "Mechitza: Individual and Collective Resistance of Women During the Shoah, 2019-2022". (Foto: Courtesy of the artist, Foto: Zuzanna Hertzberg, Przyjaciele MSN)

Präsentiert werden ihre Werke auf allen fünf Stockwerken, womit diese sowohl zur Dauerausstellung als auch zur noch bis zum 7. Januar gezeigten Ausstellung " Wichtiger als unser Leben. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos" in Beziehung treten. Eine Sonderrolle kommt dabei unter anderem den Frauen zu, die in der von Männern dominierten Geschichtsschreibung allenfalls am Rande auftauchen. Zuzanna Hertzberg will mit ihren Installationen und Aktionen genau das ändern, indem sie etwa in "Mechitza: Individual and Collective Resistance of Women During the Shoah" mit Fotos und Dokumenten aufzeigt, welch bedeutende Rollen Frauen wie Gusta Dawidson oder Roza Robota in der jüdischen Widerstandsbewegung hatten.

Paweł Kowalewski wählt für seine Beschäftigung mit der oft übersehenen Heldinnenrolle jüdischer Frauen einen sehr persönlichen Zugang. Denn die Frau, die am Anfang seiner Foto-Serie "Strength and Beauty. A Very Subjective History of Polish Mothers" steht, ist seine Mutter. Diese spielte beim Aufstand im Warschauer Ghetto, wo sich 1943 Juden mit der deutschen Besatzungsmacht Wochen lang erbitterte Gefechte lieferten, eine aktive Rolle. Die anderen Frauen, die Kowalewski alle "Göttinnen" nennt, sind oder waren Freundinnen seiner Mutter. Und sie alle haben im Krieg oder danach traumatische, ihr Leben verändernde Erfahrungen gemacht, die neben den großformatigen Porträtbildern in Texten beschrieben werden.

Paweł Kowalewski, "Zosia, 2015", aus der Serie "Strength and Beauty. A Very Subjective History of Polish Mothers (Polnishe Mame)". (Foto: Courtesy of the artist & Leon Kofler)

Das Besondere: Kowalewski hat die auf historischen Fotos beruhenden Porträts mit einer Tinte gedruckt, die im Laufe der Zeit gänzlich verblasst. Genauso wie die Generation von Kowalewskis Mutter immer mehr verschwindet. Auf den drei Arbeiten des in Polen sehr bekannten Malers Wilhelm Sasnal zeigt sich dieser Verlust eher indirekt. Weil auch er als Nicht-Zeitzeuge den Holocaust nur indirekt thematisieren kann.

Wilhelm Sasnals Gemälde "First of January, 2021" beruht auf einer Fotografie, die der Künstler aus dem Auto heraus aufnahm, als er am Neujahrstag am Museum und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau vorbeifuhr. Zu sehen ist es in der Ausstellung "Materializing" im NS-Dokuzentrum. (Foto: Courtesy of the artist & Foksal Gallery Foundation)

Ein Beispiel dafür ist das Gemälde "First of January" von 2021. Dieses beruht auf einer Fotografie, die der Künstler aus dem Auto heraus aufnahm, als er am Neujahrstag am Museum und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau vorbeifuhr. Die anderen, kleinformatigen Bilder basieren auf historischen Fotografien und thematisieren die Erinnerung als einen vielschichtigen Akt.

Artur Żmijewski & Zofia Waślicka-Żmijewska, "We've Been Looking in Ashes, 2021-2022". (Foto: Courtesy of the artists)

Ähnlich komplex stellt sich das Gedenken bei den projizierten "Echogrammen" von Agnieszka Mastalerz dar. Diese beziehen sich auf eine Wandmalerei von Symche Trachter, die 1942 im ehemaligen Gebäude des Judenrats entstand. Heute steht an der fast selben Stelle ein Hotel. Artur Żmijewski und Zofia Waślicka-Żmijewska zeigen auf Fotos und in Videos Alltagsgegenstände, die bei archäologischen Arbeiten auf der Baustelle des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN gefunden wurden. Sie dokumentieren aber nicht nur die Fundobjekte, sondern sie haben etwa einen alten Löffel in einem heutigen Besteck-Kasten oder eine rostige Schneiderschere zwischen halb fertigen Kleidungsstücken deponiert. Um auf die Art eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herzustellen.

Natalia Romik, "Hideouts. The Architecture of Survival. Vacant lot in the Jewish Cemetery (Warsaw, Poland), 2022". (Foto: Courtesy of the artist & TRAFO Center for Contemporary Art & Zachęta National Gallery Foto: Daniel Chrobak)

Mit "The Other City" haben Elżbieta Janicka und Wojciech Wilczyk ihre Serie aus großformatigen Fotografien überschrieben, die in den Jahren 2011 bis 2013 entstanden. Fotografiert haben sie das ehemalige Gebiet des Warschauer Ghettos, und zwar von den Dächern oder den obersten Geschossen von Gebäuden aus. Die Fotos sind streng, rein dokumentarisch und nehmen zu amerikanischen, fotografischen Projekten aus den 1920ern Bezug. Und sie machen die riesige Fläche des ehemaligen Ghettos erfahrbar, das durch eine komplett neue Stadt ersetzt wurde.

Mehrere Versuche, dem Ghetto ein Denkmal zu setzen, verliefen in Polen im Sand. Die Erinnerung daran war im Kommunismus nicht gewollt. Das galt ähnlich unter der nationalkonservativen PiS-Regierung. Und laut Zuzanna Hertzberg wird sich zumindest für die Künstler unter dem neuem Ministerpräsidenten Donald Tusk nicht viel ändern. Dafür gäbe es, sagt sie, "zu viele Baustellen" im Land. Jetzt gehe es dort erst mal "um ökonomisches Wachstum", und nicht um die Kunst oder politische Erinnerungsarbeit.

Materializing. Zeitgenössische Kunst und die Shoah in Polen, bis 25. Feb., NS-Dokumentationszentrum München, Max-Mannheimer-Pl. 1, nsdoku.de

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