Literatur:Hadern mit der schmutzigen Sprache

Lesezeit: 5 Min.

Die in Südtirol geborene Autorin Maddalena Fingerle lebt inzwischen im Allgäu und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LMU. (Foto: Julia Mayer)

Für ihren Debütroman "Muttersprache" wurde Autorin Maddalena Fingerle schon vor Erscheinen in Italien ausgezeichnet. Auch in der Übersetzung ist der Furor spürbar, mit dem sie mit ihrer Heimatstadt Bozen abrechnet.

Von Antje Weber, München

Kann man an der Sprache irre werden? Natürlich gibt es viele Gründe, an der Welt zu verzweifeln. Doch Paolo Preschers Wohl und Wehe ist eng mit der Sprache verknüpft, und das schon immer: "Seit ich auf der Welt war, heult meine Mutter. Sie heult, weil mein erstes Wort Wort war. Sie heult, weil ich Wort sage und nicht Mama."

Es sind furiose Sätze, mit denen Maddalena Fingerles Roman "Muttersprache" beginnt. Mutter und Sprache, das ist für ihren Ich-Erzähler Paolo eine ganz, ganz schlechte Kombination. Denn die Mutter beschmutzt in seinen Augen die Sprache, im Gegensatz zum Vater, der völlig verstummt ist: "Sie heult, weil ich zu ihr sage, dass Wort nicht mehr Wort bedeutet, weil sie mir das Wort dreckig gemacht hat. Sie heult, weil ich zu ihr sage, dass ich die dreckigen Wörter hasse, weil sie dreckig sind, und dass sie mir die Wörter dreckig gemacht hat."

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Angesichts dieser Suada muss man doch mal kurz tief durchatmen, und bevor man mehr über diesen wahrlich erstaunlichen Debütroman erzählt, setzt man sich vielleicht erst einmal mit der freundlichen, lebhaften Autorin auf einen Kaffee zusammen. Sie hat das Café Dinatale hinter dem LMU-Hauptgebäude in der Amalienstraße vorgeschlagen, ein stilecht italienisches Café - und für Fingerle praktisch gelegen. Denn die 1993 in Bozen geborene Autorin arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich "Vigilanzkulturen" der Universität. Seit zehn Jahren lebt sie in München beziehungsweise inzwischen im Allgäu, sie hat Germanistik und Italianistik studiert und gerade ihre Promotion abgeschlossen, zum nicht gerade mainstreamigen Thema "Vigilanz und Allegorie bei Torquato Tasso und Giovan Battista Marino".

Der Roman gewann zahlreiche Preise

Und jetzt muss man sich doch erst einmal erklären lassen, was es damit auf sich hat, um sich langsam dem Kosmos, den Vorlieben, ja, Obsessionen dieser 29 Jahre jungen Autorin zu nähern und damit allmählich auch wieder ihrem Roman, der vor zwei Jahren in Italien schon vor Erscheinen kometenhaft in den Himmel des Erfolgs aufstieg, ohne dort bisher zu verglühen: Fingerle gewann für das Manuskript den Italo-Calvino-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt, sie erhielt nach dem Erscheinen drei weitere Auszeichnungen, und ein Ende des Preissegens ist noch nicht abzusehen. "Wahnsinn", sagt sie dazu und lacht.

Und das alles nur oder vor allem, weil Maddalena Fingerle - der Nachname stammt von einem Münchner Urgroßvater - von Sprache fasziniert ist, von frühester Kindheit an. Und sicher nicht zufällig wissenschaftlich beim Thema Vigilanz gelandet ist, dessen Bedeutung sie so erklärt: "Aufmerksam sein. Wachsam agieren." Wie eben die Dichter Torquato Tasso und Giovan Battista Marino, die in schwierigen Zeiten poetische Strategien entwickeln mussten, um die Zensur zu umgehen. Wobei der Barockdichter Marino dennoch sehr provokant gewesen sei, sagt Fingerle. Ihn liebt sie besonders, weil er "mit Sprache spielt", meisterhaft moduliert, was sie als stark auditiv geprägter Mensch besonders zu schätzen weiß.

Außerdem liebt sie den Klang von Dialekten, das sollte man vielleicht auch noch schnell hinzufügen. Das Bairische oder Fränkische zum Beispiel - "wunderschön"! Oder das Wienerische und das Toskanische, das für sie viel gemeinsam hat, nämlich dieses "unterschwellige Gefühl, veräppelt zu werden". Der deutsche Südtiroler Dialekt steht auf ihrer Beliebtheitsskala nicht ganz so weit oben, doch das hänge sicher auch damit zusammen, dass sie den als italienischsprachige Boznerin lange nicht verstanden und sich ausgeschlossen gefühlt habe, sagt Fingerle. Geblieben ist ihr der Neid auf Menschen, die Dialekt sprechen und somit auch sprachlich zwischen Arbeit und Privatleben unterscheiden können: "Das hätte ich supergern gehabt!", sagt sie in einem akzentfreien Deutsch, das sie trotz Schulunterricht erst in Deutschland richtig gelernt hat. Sie ist übrigens, nebenbei, mit ihrem einstigen Tandempartner zum Sprach-Lernen inzwischen verheiratet.

Nicht jeder, der die Schönheit und den Klang von Sprachen liebt, schreibt allerdings gleich einen Roman. Maddalena Fingerle wurde dazu durch eine Diskussion mit Freunden inspiriert - sie stritten tatsächlich darüber, wie oft ein Mensch duschen soll oder darf. Fingerle beschloss, einen Roman über einen jungen Mann zu schreiben, der zwanghaft duscht und auch gegenüber der Sprache eine Besessenheit empfindet, die viel von einer Zwangsstörung hat, was der Roman jedoch nur implizit nahelegt. Sie recherchierte und strukturierte ihr Buch "minutiös", wie sie sagt. Um es dann doch in zwei Monaten in einem Rutsch hinunterzuschreiben, "in der Badewanne". Der Furor, den Maddalena Fingerle dabei entwickelte, ist spürbar: Da musste wohl etwas raus.

Bozen-Bashing: In Maddalena Fingerles Roman kommt die Südtiroler Landeshauptstadt nicht gerade gut weg. (Foto: Manfred Segerer/imago images)

Denn wenn ihr Ich-Erzähler Paolo, der natürlich nicht mit der Autorin gleichzusetzen ist, mit einer schmutzigen Sprache hadert, schwingt da selbstredend noch sehr viel mehr mit; nicht nur die Sprachspielerei und -skepsis einer an viel Weltliteratur geschulten Autorin, die Stephen King genauso zitiert wie Giacomao Leopardi, Daniel Pennac wie Giorgio de Chirico, und in den Namen gern Anagramme versteckt - auch in "Madre" steckt ja "Merda", was an dieser Stelle unübersetzt bleiben soll. Am meisten hasst der Ich-Erzähler Paolo an der Mutter jedenfalls die Heuchelei, die sich für ihn mit einem unsauberen, uneindeutigen Gebrauch der Sprache verbindet. Dass er dabei politisch unkorrekte Sprache bevorzugt, teilt Fingerle nicht. Näher liegt ihr wohl sein Bozen-Bashing, bei dem ihr Paolo mitunter Thomas Bernhardsche Wut und Wucht entwickelt.

"Die Stadt kotzt mich an", ätzt Paolo über Bozen. Er kritisiert die Engstirnigkeit der Bozner, die sich "nur für ihre Wurzeln und ihre eigene Region" interessieren und immer so tun, als seien sie zweisprachig oder mit dem Ladinischen sogar dreisprachig, was jedoch in der Realität gar nicht stimme. Ja, die verschiedenen Gruppen lebten wirklich getrennt, sagt Fingerle, "das ist nicht nur Fiktion". Da schwingt natürlich die komplexe Vergangenheit Südtirols mit; so mussten sich, zum Beispiel, die Bewohner 1939 bei der sogenannten "Option" entscheiden, ob sie die italienische oder deutsche Staatsbürgerschaft annehmen wollten - und in letzterem Fall ins damalige Deutsche Reich auswandern. Was das für den Einzelnen bedeutete, hat übrigens vor kurzem eine weitere Münchner Autorin, Verena Nolte, in der opulenten Biografie "Der Milchkrug" anhand des Schicksals einer deutschsprachigen Südtirolerin ebenfalls minutiös recherchiert und eindrucksvoll aufgeschrieben.

Die "Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung"

Dass in der inzwischen autonomen Provinz Südtirol immer noch bürokratische Absurditäten zum Alltag gehören, lässt auch Fingerles Roman süffisant anklingen: Jeder Bürger muss bis heute eine "Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung" abgeben und sich einer Sprachgruppe zuordnen. Wer es nicht tut, kann sich zum Beispiel nicht auf öffentliche Stellen bewerben. Fingerle hat diese Sprach- und Identitätsfestlegung wie ihre Figur verweigert und ist nach dem Abitur aus Bozen weggegangen, das ihr ohnehin die Luft zum Atmen nahm - die "Offenheit" des Meeres liebt sie mehr als die Berge, auch darin ihrem Protagonisten Paolo ähnlich.

Der allerdings wandert nicht nach München aus, sondern nach Berlin. Dort erscheint seine Sprach-Besessenheit zeitweilig in milderem Licht, Paolo verliebt sich in eine Frau, die seine Absonderlichkeiten akzeptiert. Kann es allerdings gutgehen, als er mit ihr nach Bozen zurückkehrt, in die ungeliebte Stadt, zur verhassten Mutter? Muss so einer wie dieser Paolo nicht irre werden an all den ungelösten (Sprach-)Problemen? Wäre Maddalena Fingerle nicht seine Erfinderin, sondern eine gute Freundin, würde sie ihm vielleicht raten: aufmerksam bleiben, wachsam agieren.

Maddalena Fingerle: Muttersprache. Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner. Folio, 192 Seiten, 22 Euro.

Lesungen: Maddalena Fingerle: Italienisches Literaturfestival, So., 3. Juli, 16.30 Uhr, Pasinger Fabrik, August-Exter-Str.1, www.ilfest.de ; Verena Nolte: Fr., 3. Juni, 18 Uhr, St. Hildegard Pasing, Paosostr. 25, Anmeldung: Telefon 831072 oder corleis_wittner@gmx.net

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