SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 35:Fast jeder Zweite

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Im Vergleich zur Normalstation sterben Patienten auf der Intensivstation viel häufiger. (Foto: Britta Pedersen/dpa)

Viele Menschen, die sterben, tun dies im Krankenhaus. Auf der Intensivstation sieht Julia Rettenberger manche Arten von Tod und Trauer öfter als andere - aber jede Form wird akzeptiert.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Es gibt da eine Sache in meinem Beruf, die ich schon viele Male erlebt habe - und dennoch büßt sie für mich nichts von ihrer Faszination ein: Wenn einer unserer Patienten auf der Intensivstation im Sterben liegt und Angehörige von weiter weg anreisen, um sich von ihm verabschieden zu können, dann kommt es oft vor, dass der Patient kämpft. Vier, fünf oder sogar sechs Stunden, so lange es eben dauert, bis die Angehörigen angekommen sind. Und nur eine halbe Stunde nach ihrem Eintreffen, oft genug auch nach noch kürzerer Zeit, stirbt er - es ist, als ob der Patient unbedingt noch warten wollte, bis seine Lieben am Bett stehen. Erst dann lässt er los vom Leben.

Manchmal passiert aber auch das komplette Gegenteil: Hier sitzen die Angehörigen bereits am Bett des Sterbenden, Stunde um Stunde begleiten sie ihn, wollen auf keinen Fall, dass er alleine stirbt. Irgendwann aber verlassen sie doch mal das Zimmer, fahren schnell nach Hause um zu duschen oder holen sich in der Cafeteria einen Kaffee. Immer sind es nur kurze Unterbrechungen in der Sterbebegleitung. Aber genau in dieser Zeit kommt es dann zum Tod. Es scheint, dass der Patient wohl einfach alleine sterben wollte und dafür den passenden Moment abgewartet hat.

In Zeiten von Corona läuft das Sterben etwas anders ab: Es sterben mehr unserer Patienten und vor allem auch mehr jüngere als es bei uns vor der Pandemie üblich war. Bei Sterbenden gibt es auch eine Ausnahme vom derzeit geltenden Besuchsverbot. Dann kann ein Angehöriger dabei sein, sofern sein Corona-Test negativ ist. Aber auch vor Corona durfte in der Regel nur ein sehr kleiner Angehörigenkreis kommen, für mehr sind unsere Zimmer einfach zu klein. Trotzdem: Dass viele unserer Patienten sterben, viele im Vergleich zu denen auf Normalstation, war schon immer so.

Julia Rettenberger arbeitet als Intensivfachpflegekraft in der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Vermutlich wünscht sich niemand, im Krankenhaus zu sterben. Aber es kommt trotzdem sehr häufig vor: Laut der Gesundheitsberichterstattung des Bundes sind 427 199 Menschen im Jahr 2019 in deutschen Kliniken gestorben. Das sind 45 Prozent - insgesamt nämlich gab es dem Statistischem Bundesamt zufolge 939 520 Tote. Fast jeder Zweite, der stirbt, tut dies also im Krankenhaus.

Der Tod der Patienten geht einher mit der Trauer der Angehörigen. Meistens geschieht das bei uns still. Manche der Angehörigen weinen zwar auch, aber in der Regel leise und in dem privaten Rahmen, den wir ihnen auf der Station schaffen. Es gibt aber auch andere Fälle. Ich erinnere mich an einen, bei dem eine Mutter starb - die Mama, der Dreh- und Angelpunkt der großen Familie, die alles zusammengehalten hat. In dem Moment, als auf dem Monitor die Nulllinie erschien, sind die anwesenden Angehörigen zerbrochen. Zwei von ihnen sind in ihrer Trauer so kollabiert, dass wir sie medizinisch versorgen mussten.

Trauer muss als eigener emotionaler Akt verstanden und gelebt werden dürfen. Es gibt kulturelle Unterschiede im Trauern, aber auch individuelle. Wir akzeptieren jede Form auf unserer Station.

Julia Rettenberger ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 28-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte finden Sie unter sueddeutsche.de/thema/Auf_Station .

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