Protestkultur:Blockiert euch nicht

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So sieht es gerade in Ottawa aus. (Foto: Adrian Wyld/picture alliance/dpa/The Canadia)

Extreme Protestformen schaden meist den Anliegen der Aktivisten.

Kommentar von Sebastian Herrmann

Die Straßenblockade zum Zwecke der Weltverbesserung erlebt gerade breiten Einsatz. In Berlin setzen sich Aktivisten auf die Straße und blockieren Verkehrsachsen. Die Gruppe bezeichnet sich als Last Generation und will auf das Thema Lebensmittelverschwendung als Teilproblem des Klimawandels aufmerksam machen. Die unmittelbar betroffenen Autofahrer reagieren darauf eher unbegeistert. Sie haben ganz akute Probleme, die der abstrakten Rettung der Welt gerade keinen Platz lassen. Im Netz sind Aufnahmen zu sehen, wie aufgebrachte Menschen versuchen, die Protestler von der Straße zu zerren. In Kanada geschieht Ähnliches, zwar mit anderem Ziel, dafür mit vergleichbaren Methoden - und um ein paar Größenordnungen intensiver. Dort blockieren Trucker mit ihren Lastwagen Straßen in der Hauptstadt Ottawa. Sie protestieren gegen die Corona-Politik der Regierung, die sie ablehnen oder als existenzbedrohlich wahrnehmen. Auch sie ernten inzwischen einigen Gegenwind von der belagerten Bevölkerung der Stadt.

Die Ziele könnten unterschiedlicher nicht sein, und sie können aus unterschiedlichen, mitunter gewichtigen Gründen falsch oder richtig gefunden werden. Doch beide Proteste haben etwas gemeinsam: Es ist gut möglich, dass sie nach hinten losgehen und die öffentliche Unterstützung für die jeweiligen Anliegen mindern werden. Je extremer die Protestform, desto eher befremdet dies selbst Menschen, die das Ziel der Aktionen eigentlich gutheißen. Das gilt, so haben Psychologen beobachtet, unabhängig von der politischen Ausrichtung. Egal ob Tierschützer, Trump-Anhänger, Abtreibungsgegner, Klimaschützer oder Demonstranten der "Black Lives Matter"-Bewegung: Brennende Geschäfte, blockierte Straßen, Aufrufe zur Gewalt gegen die Polizei oder andere Formen eskalierender Proteste reduzierten messbar die Unterstützung für die jeweiligen Anliegen.

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Psychologen bezeichnen das als "Aktivisten-Dilemma". Auf der einen Seite müssen Demonstranten auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Mit extremen Aktionen, über die sich andere empören, ist das einfacher: Entsprechende Bilder verbreiten sich im Netz am schnellsten und werden von klassischen Medien gierig aufgegriffen. Was aufregt, findet Publikum. Mit großer moralischer Anmaßung Straßen zu blockieren, erzeugt mächtige Bilder - kreischende Aktivisten, brüllende Lkw-Fahrer, Polizisten, Stau, Gezerre und Gezeter, gegenseitige Vorwürfe, das ganze Programm.

Proteste und soziale Bewegungen sind dann erfolgreich, wenn sie identitätsstiftend wirken. Wenn auch bei Beobachtern das Gefühl entsteht, dass das die eigenen Leute sind, die da für eine Sache kämpfen. Wer aber die Mittel des Protestes verwerflich oder gar abstoßend findet, wird sich auch von den Demonstranten und deren Zielen distanzieren. Aktivisten, auch das hat die psychologische Forschung gezeigt, fehlt dafür aber oft das Gespür. Wer von der moralischen Unbedingtheit seiner Ziele überzeugt ist, interpretiert Ablehnung und Scheitern als Grund, die gleiche Medizin in erhöhter Dosis abermals zu verabreichen.

Wer wirklich etwas erreichen will, muss Herzen erobern, statt sie zu verprellen. Es wäre ein erster Schritt, auf einfallslose, nervende oder zerstörerische Aktionen zu verzichten - und Protest stattdessen kreativ zu denken. Nur begeisterte Aufmerksamkeit lässt sich in Unterstützung umwandeln.

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