Wer Joachim Gaucks Vergangenheit und seine Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur vor, während und nach deren Ende verfolgt hat, den konnte sein Kommentar zu einer möglichen rot-rot-grünen Koalition in Thüringen nicht überraschen. "Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können?"
Gauck hat damit eine heftige Debatte ausgelöst, der Anne Will ihre Sendung gewidmet hat. "Streit um ersten linken Ministerpräsidenten - ist Deutschland schon so weit?" fragt sie. Und führt damit ein wenig in die Irre. Denn ihre Gäste beschäftigen sich dann vor allem mit zwei anderen, besseren Fragen: Darf ein Bundespräsident sich auf diese Weise in die Politik einmischen? Und wie weit hat sich die Partei Die Linke von ihrer Vorgängerin SED gelöst, die in der DDR-Diktatur die Macht ausübte?
Gauck selbst hat deutlich gezeigt, dass er das Amt des Bundespräsidenten nicht so ausüben will, wie es seine Vorgänger getan haben. Die hatten sich aus dem politischen Tagesgeschäft weitgehend ferngehalten. Der protestantische Theologe aber orientiert sich deutlich an der Haltung des ersten Protestanten Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms: "Hier stehe ich und kann nicht anders."
Und so äußert er Kritik freimütig, wann immer es ihn dazu drängt. Am türkischen Präsidenten Erdoğan; am russischen Präsidenten Putin; an rechtsradikalen "Spinnern". Edmund Stoiber, ehemals bayerischer Landesvater, äußert in Wills Sendung großes Verständnis für Gauck. Er setze deutliche Zeichen, belebe die politische Diskussion und lege den Finger in die Wunde. "Es ist ein Glücksfall, dass wir diesen Bundespräsidenten haben." Selbst dass Gauck mit seinem Kommentar einen Einfluss auf die Regierungsbildung in Thüringen nimmt, hält der ehemalige CSU-Chef für unproblematisch. "Da kann der Bundespräsident keine Rücksicht nehmen."
Das sieht Oskar Lafontaine, ehemals SPD-Parteichef, nun Fraktionsvorsitzender der Linken im saarländischen Landtag, völlig anders. Dass Gauck es in Ordnung findet, wenn ein ehemaliger ostdeutscher Pfarrer Bundespräsident werden kann, aber etwas gegen einen westdeutschen Gewerkschaftler und bekennenden Christen als Ministerpräsidenten habe - er meint den Spitzenkandidaten der Linken in Thüringen, Bodo Ramelow -, das beschäftige ihn. Eigentlich müsse Gauck sich doch darüber freuen, dass jemand aus dem Westen, der nicht belastet ist, Christine Lieberknecht (CDU) ablöst, eine Landeschefin, die in der DDR in der CDU-Blockpartei war.
Anke Domscheit-Berg, als Studentin in der Opposition in der DDR, dann Mitglied bei Bündnis90/Die Grünen und der Piratenpartei, kritisiert den Zeitpunkt von Gaucks Äußerung: "Der Bundespräsident sollte insofern neutral sein und als Bundespräsident aller Deutschen keinen direkten Einfluss auf Wahlentscheidungen nehmen." Faktisch sei es eine Wahlempfehlung gewesen. Darüber hinaus spricht Lafontaine dem Bundespräsidenten kurzerhand auch noch ab, überhaupt ein Bürgerrechtler gewesen zu sein.
Ehrabschneidende Behauptung, verlogene Debatte
Das verärgert Stephan Hilsberg, selbst Bürgerrechtler in der DDR und Gründungsmitglied der Ost-SPD (SDP). Ehrabschneidend sei das, was Lafontaine sage. Er hält die Äußerungen Gaucks für völlig in Ordnung: Der Bundespräsident mache sich Sorgen um die Demokratiefähigkeit der Linkspartei, weil diese aus der SED entstanden sei. Und die SED verkörpere das gesamte Unrecht in der DDR, wie Mauer, Überwachung, Schießbefehl. Die Ost-CDU war zwar Kollaborateurin, weshalb es eine schwere Belastung für den Demokratieprozess gewesen sei, als Bundeskanzler Helmut Kohl sie zum Partner gemacht hat. Doch eine Gleichsetzung rechtfertige das noch lange nicht.
Diese Debatte kritisiert Domscheit-Berg als verlogen. Schließlich gab es auch in der Ost-CDU zum Beispiel Politiker wie Andreas Trautvetter, einen ehemaligen Unteroffizier bei den Grenztruppen. In Thüringen übernahm er nach der Wende nacheinander mehrere Ministerämter, darunter Verkehrsminister, Staatskanzleiminister und sogar Innenminister. "Er war Chef einer Behörde, deren Mitarbeiter er wegen seiner Vergangenheit gar nicht hätte werden dürfen", so Domscheit-Berg. Mit Henry Worm sitze auch ein ehemaliges SED-Mitglied für die CDU im Landtag. Und Marion Walsmann habe als Abgeordnete der Ost-CDU in der Volkskammer 1989 eine Solidaritätsadresse wegen des Tiananmen-Massakers in China mit unterschrieben. Allerdings keine Solidaritätsadresse mit den Ermordeten, sondern mit der chinesischen Regierung. Insgesamt, so Domscheit-Berg, seien "500 000 Blockflöten übernommen worden, und keiner hat ihre demokratische Legitimation in Frage gestellt".
Für Edmund Stoiber aber bleibt klar, dass die Linke die Erbin des Erblassers sei - er meint die SED. Und wenn in Thüringen jetzt "der Erbe den Regierungschef stellt, dann ist das ein Quantensprung. Und ich bleibe dabei: Ich halte das für unmöglich."