Favoriten der Woche:Mitleid für Unbekannte

Lesezeit: 4 min

Die Dichterin Wisława Szymborska an ihrem Schreibtisch, beim Weglassen der falschen Wörter. (Foto: Imago)

Ein ganzes Buch voll bissiger Briefe an Autoren, die besser keine werden sollten: Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Sonja Dawson, Marc Hoch, Christiane Lutz, Gerhard Matzig und Marie Schmidt

Literatur: "Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln"

Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen. Sagte Mark Twain. Und hat damit alles zum Thema gesagt. Aber welche die falschen Wörter sind? Ganze Berufszweige fußen heute auf dem Versprechen, Schreibenden die falschen Wörter auszutreiben. Volkshochschulkurse, Schreibwerkstätten, Ratgeber, die empfehlen, morgens 20 Minuten drauflos zu schreiben, auf dass was Brauchbares mit rausrutscht. Die polnische Dichterin und Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska, gestorben 2012, hatte ihre eigene Art, Autoren Tipps zu geben. Ab 1968 schrieb sie für die Krakauer Zeitung Życie Literackie (Literarisches Leben) die Kolumne "Literarischer Briefkasten", in der sie Menschen antwortete, deren Manuskripte abgelehnt worden waren.

Bei Suhrkamp erschien kürzlich die volle Pracht von Szymborskas charmanter Bissigkeit in Form des Kolumnen-Büchleins: "Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln". Spitz, lustig und so gnadenlos, dass man oft Mitleid mit den hoffnungsvollen Einsendern empfindet, ohne deren Werk zu kennen. Da urteilt sie etwa über die arme Halina W.: "Sie sind zu gutgläubig und haben ein zu reines Herz, um gut schreiben zu können." Eine Literaturstudentin namens Eva hat gedichtet. Die Antwort: "Alle Verliebten weisen ein flüchtiges Talent auf, selten jedoch, sehr selten, hält es der Probe einer emotionalen Flaute stand. Versuchen Sie es lieber mit Chemie, Eva." Autsch. Und an jemanden, der ihr einen "Zyklop der Leidenschaft" unterjubeln wollte: "Klingt gefährlich, aber immerhin besser als ein einäugiger Zyklop."

Szymborska deckt Plagiate genauso eiskalt auf wie Rechtschreibschwächen, Unfähigkeit ("Der Mangel an literarischem Talent ist keine Schande!"), Überambition, Unterambition, übertriebene Ernsthaftigkeit, und sie führt Verirrte zurück auf den rechten Pfad: "Die Medizin aufgeben? Das Studienfach von Friedrich Schiller?" Und wie wird man ein guter Autor? Jedenfalls nicht mit dem Verfassen von Ratgebern. Denn: "Ein Autor, der ein zuverlässiges Rezept für literarischen Erfolg kennt, würde selbst davon Gebrauch machen und sich seinen Lebensunterhalt nicht mit dem Schreiben von Handbüchern verdienen. Richtig? Richtig." Christiane Lutz

Fotografie: "Walkietalkie" auf Youtube

YouTube

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

Wer auf der Straße fotografiert, braucht Ausdauer, Mut, Leidenschaft. In welchem Maß, zeigt Paulie B in seiner inspirierenden Reihe "Walkietalkie" auf Youtube. "Paulie", Klarname Paul Baldonado, begleitet Straßenfotografen in New York. Während die meist jungen Männer mit ihren analogen Leicas aus kürzester Distanz Menschen fotografieren, filmt und interviewt er sie. Wie sie Konfrontationen vermeiden, wie oft sie auf die Straße gehen, wie sie sich motivieren. Ihre Leidenschaft sprengt jede Vorstellung. Manche haben ihre Jobs irgendwo in den USA aufgegeben, nur um in New York zu fotografieren: morgens, mittags, abends. Es sind Süchtige, für die nichts zählt als ein gutes Foto. "Nur wenn ich unterwegs bin, muss ich mich nicht hassen", sagt einer. Und ein anderer beschreibt die Sehnsucht, die jeden Fotografen antreibt: "Ich möchte in diesem Leben sein." Großartig. Marc Hoch

Kochbuch: "Die Küche der Armen"

Der vegetarische Teil entspricht dem heutigen Alltag. Die Igel, Elefanten und Eidechsen liegen ferner. (Foto: März Verlag)

Mit so einem Einkaufszettel geht man heute in schicke, eher teure Geschäfte: Tofu, Algen, Linsen, Kichererbsen. Zu den Lieblingsgerichten des mondän-urbanen Wohlstands gehören längst auch Sushi, Tacos oder Shakshuka. Erstaunlicherweise findet man all das jetzt wieder in dem 1970 zum ersten Mal im französischen Original erschienenen Buch "Die Küche der Armen". Der März-Verlag hat es neu übersetzt und modernisiert herausgegeben.

Über die Autorin Huguette Couffignal war dabei offenbar nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Was schade ist, so charakteristisch ihre Stimme im Textteil dieses Kochbuchs klingt. Sie erzählt vom Alltag der Armen verschiedener Weltgegenden, von Tauschgeschäften, den Ritualen der Jagd und des Aufteilens des Fleischs in verschiedenen Gemeinschaften, darüber, wie man unter einfachsten Bedingungen kocht und Essen haltbar macht. Und von den "Hungertäuschern", Coca, Peyote, Schnaps, mit denen Menschen überall versuchen, die nächste Mahlzeit hinauszuzögern.

In den Rezepten dieses Buchs beginnt man nach Ideen zu suchen, mit schlechtem Gewissen, weil man sie sich in aller Sattheit aneignet. So sehr entspricht zumindest der vegetarische Teil dem Alltag unserer Konsumgesellschaft. Die Igel, Elefanten und Eidechsen, von deren Zubereitung Couffignal weiß, liegen ferner. Fußnoten der Herausgeber zeigen, welche Entwicklung es im vergangenen halben Jahrhundert gab. Die Autorin hatte aber in den Siebzigerjahren schon einen scharfen Blick für die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Sie rechnet vor, "was die Erzeugung einer tierischen Kalorie im Vergleich zur Erzeugung einer pflanzlichen Kalorie kostet. Milch zum Beispiel bringt nur 15 Prozent der verbrauchten Energie wieder ein, Eier 7 Prozent, das Rindfleisch höchstens 4 Prozent".

Wie sich das Wohlstandsgefälle verändert, scheint sie aber auch vorauszuahnen. Glücklicher wirkten die, schreibt Couffignal, die zwar knapp, aber von dem leben, was die sie umgebende Natur zur Verfügung stellt. Dagegen gibt es in der Küche der Armen heute oft stark industriell verarbeitete Nahrung, von der man sich inzwischen billiger ernähren kann als von Kichererbsen und Gemüse. Sie bringt Körper und Symptome hervor, die äußerlich eher denen des Überflusses von früher ähneln, während die Reichen sich mager schön finden. Marie Schmidt

Pop: "Stick Season (We'll all be here forever)"

Noah Kahan am 3. August auf dem Lollapalooza Festival in Chicago. (Foto: Amy Harris/Invision/AP)

Die Lieder des Folksängers Noah Kahan fühlen sich an wie geheime Tagebucheinträge, tiefgründige Gespräche mit engen Freunden oder eine ausgedehnte Therapiestunde. 2022 veröffentlichte der bärtige junge Mann aus Vermont bereits sein drittes Album, "Stick Season". Begleitet von seiner Akustik-Gitarre singt er dort über Alkoholismus, Unsicherheit in der Kindheit, die Scheidung seiner Eltern und das Gefühl, nicht dazuzugehören. Auf Tiktok gibt der 25-Jährige immer wieder Einblicke in neue Songs. Bei seinen Fans kommen sie so gut an, dass er in diesem Jahr die Deluxe-Version des letzten Albums herausgebracht hat: "Stick Season (We'll all be here forever)". Sein erweitertes Album ist eine Ode an das Erwachsenwerden, an die Sehnsucht nach Normalität und Abenteuer, an die Ambivalenz von Heimatgefühlen und dem Drang, die Welt zu entdecken. Sonja Dawson

Design: Katzenklo von Tesla

Tragfähigkeit: 15 Kilo. Läuft bei Tesla. (Foto: Tesla)

"Die besten Dinge im Leben sind ... essbar!" Das stammt vom faulen, verfressenen und weisen Kater Garfield. Somit stellt sich die Frage, was die jüngste, leider nicht essbare Erfindung von Tesla zu bieten hat. Denn das Katzenklo - manche sehen auch ein Katzenbett darin und in der Produktbeschreibung ist vom "multifunktionalen Katzennest" die Rede -, das es seit ein paar Tagen im E-Shop von Tesla China für umgerechnet elf Euro gibt, ist aus mehrlagiger Wellpappe. Auch wenn Garfields Lieblingsessen Lasagne mehrlagig ist: Von Pappe ist sie nicht. Ein Katzen-Habitat aus polygonal gefalteter Pappe ist als Klo, Bett, Nest oder Lasagne aber eher dysfunktional. Genau deshalb könnte das jüngste Gebilde aus dem Tesla-Irrsinn immerhin ein Hinweis auf den in der Form ähnlichen "Cybertruck" sein, den es nächstes Jahr in Europa geben soll, wo uns genau dieses Auto noch gefehlt hat: zu einem Drittel Pick-up, zu einem Drittel SUV und zu einem Drittel Idiotie. So schön war Anti-Werbung nicht mehr, seit sie von Helmut Dietl für die "Münchner Geschichten" erfunden wurde. Als Papp-Klo kommt das Konstrukt für Garfield übrigens nicht in Betracht. Die Tragfähigkeit endet bei 15 Kilo. Gerhard Matzig

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ Plus50 Jahre Hip-Hop
:Als die Götter geboren wurden

Wie im August 1973 bei einer kleinen Party in der Bronx der Hip-Hop erfunden wurde, der die Welt verändert hat.

Von Jakob Biazza

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: