"Aloha" von Cameron Crowe
Südseefilme sind die schönsten Testfälle für Filmemacher, von Murnau und King Vidor bis John Ford. Nun also Cameron Crowe, mit einem neuen Trip in die Regionen des Unbewussten. "Aloha" hat bei seinem Start Unverständnis, Spott, Bösartigkeit erfahren müssen. Es ist ein Stück Traumverlorenheit aus Hawaii, in der die Gesetze von Raum und Zeit sich auflösen. Ein paar Menschen treffen aufeinander und spielen ihre Beziehungen zueinander durch, Bradley Cooper, Emma Stone und Rachel McAdams. Und mitten unter ihnen ist der Militärpilot John Woody Woodside, verkörpert von John Krasinski, er spricht wenig, aber sieht und weiß alles, und am Ende schenkt er dem unruhigen Bradley Cooper eine große Umarmung und fängt durch diese zu sprechen an. Lust: "Eden" Frust: "Maze Runner 2"
"Birdman" von Alejandro G. Iñárritu
Der magische Moment dauert in Alejandro G. Iñárritus bitterböser Showbiz-Satire genaugenommen den ganzen Film. Gedreht wie in einer einzigen, endlosen Einstellung, an die man sich erinnert wie an einen Fiebertraum. Die Kamera folgt Michael Keaton wie ein Poltergeist durch finster-verwinkelte Theaterkatakomben, schmale Treppen auf und ab, hinaus auf den Times Square und zurück. Eine alte Superheldenrolle sitzt seiner Figur im Nacken wie ein blutdurstiger Racheengel. Und so wird aus einem Kammerspiel in der Enge des Theaters ein Bilderstrom, gewaltig und intim. Mit ihm wird man hineingesogen in den Wahnsinn der Figur. Keine Pause, kein Entrinnen. Bis alles vollends entgleitet und man sich im Flammenmeer einer Actionszene wiederfindet. Lust: "Victoria" Frust: "Montage of Heck"
"Bridge of Spies" von Steven Spielberg
Steven Spielberg, der Großmanipulator des amerikanischen Kinos, manövriert uns in eine ungewöhnliche Zuneigung hinein: in die zur Gegenseite. Im Kalten Krieg kämpft der Anwalt Donovan (Tom Hanks) um das Leben seines Mandanten, des sowjetischen Spions Abel. Aus Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit, bald auch aus Respekt vor diesem Menschen. Am Ende kommt es zum Agententausch auf der Glienicker Brücke, es ist dunkel und eisig. Donovan hat außer den beiden Agenten noch einen unbescholtenen Harvard-Studenten in die Verhandlungen einbezogen, und die Gegenseite pokert, ob er sich nicht auch ohne den zufriedengibt. Abel weiß das nicht, aber sein Vertrauen in den Gerechtigkeitssinn seines Anwalts ist so groß, dass er, als die CIA ihn bittet, endlich loszugehen, nur trocken sagt: "Ich kann warten." Da ist es dann auch kein Wunder, wenn man Augenblicke später mit Donovan fühlt, als Abel drüben ist - und keiner weiß, ob der Feind inzwischen nicht längst auch sein Feind ist. Lust: "A Most Violent Year" Frust: "By the Sea"
"Eden" von Mia Hansen-Løve
Wie ich auf diese Party geraten bin. . . ja sorry, aber wer kann sich bitte an so was erinnern, zwanzig Jahre danach? Klar ist auf jeden Fall dieses Bild: eine Wohnung am Montmartre, ziemlich voll, alle tragen Kostüme, Gott weiß warum. Irgendwann machen sich ein Langhaariger mit Zorromaske und ein Lockiger mit Trainingsjacke an den Plattentellern zu schaffen, und plötzlich schneidet, wirklich schneidet so ein brutal verzerrtes Gitarrenriff quer durch den Raum: Dammm-dadada-dammmm. Dann erst setzt der Beat ein, und alle so, oh Mann, und plötzlich kocht die Bude, und als ein Mädchen trotzdem was Negatives sagt, meint der Typ neben ihr nur: Du kapierst die Zukunft nicht mal, wenn sie dir in die Fresse haut. Tja, genauso war's, als die Jungs von Daft Punk mit dem Riff von "Da Funk" eine unheilbare Schneise durch die Popkultur schlugen. Nur heute, weil bald Weihnachten ist, kann ich hier die Wahrheit eingestehen: Dass ich in diesem geschichtsträchtigen Moment leider ganz woanders war, und dass ich das alles nur in einer sehnsuchtsvollen filmischen Rekonstruktion erlebt habe, in dem schönen Generationenporträt "Eden" von Mia Hansen-Love. Ab morgen, und ab dann für immer, war ich dabei. Lust: "Steve Jobs" Frust: "The Gunman"
"Ex Machina" von Alex Garland
In diesem Erotikthriller treibt Regisseur Alex Garland die Figur der Femme fatale in eine neue Dimension. Ein reicher Hightech-Mogul hat eine verführerische Künstliche Intelligenz gezüchtet - das Mädchen Ava. Um ihre Reize zu testen, lässt er einen Mitarbeiter einfliegen: Verliebt sich der schüchterne Caleb in seine Kreation, obwohl er weiß, dass sie ein Roboter ist? Wie Caleb und Ava sich das erste Mal begegnen, im Keller des futuristischen Gebäudes, getrennt durch eine Glaswand, das ist pures Kino: Natürlich ist der Junge schon auf den ersten Blick in diesen hübschen Homunculus verschossen, und natürlich ist diese Szene eine fiese kleine Parodie auf den gierigen Voyeurismus der Männer sowie auf den Kern der Psychoanalyse, die besagt, dass man nie wahrhaben will, was man längst weiß. Lust: "Mad Max: Fury Road" Frust: "Jurassic World"
"Ich und Kaminski" von Wolfgang Becker
Die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft, aber man merkt es nicht sofort. Wolfgang Becker malt zuerst die Porträts zweier Ego-Monster: Hier der Kunstkritiker Zöllner (Daniel Brühl), ein arroganter Schnösel. Dort Jesper Christensen als Künstler Kaminski. Das Psychoduell der beiden präsentiert Becker mit einem Feuerwerk an grandiosen Bildmetamorphosen, um dann, zum Finale, mit einer winzigen, beiläufigen Geste zu zeigen, wie nahe der alte Hochstapler und das junge Großmaul einander gekommen sind. Sie gehen am Meeresstrand spazieren und da hakt sich plötzlich der Alte beim Jungen unter. Einfach so. Ein zauberhafter Moment der Freundschaft. Lust: "Das brandneue Testament" Frust: "Die abhandene Welt"
"Mediterranea" von Jonas Carpignano
Es gab in diesem Jahr sicher bessere Filme als diesen. Aber es gab wenige, die wichtiger sind. Jonas Carpignano hat für seinen Spielfilm afrikanische Flüchtlinge in Süditalien gecastet, die ihre eigenen Rollen spielen. Die Reise von zwei Freunden über Nordafrika nach Italien, ihre tristen Abenteuer werden ausschließlich aus ihrer Perspektive erzählt. Die Magie liegt im Moment der Erkenntnis dieser gewaltsamen Umkehrung und der Solidarität, mit der Carpignano seinen Figuren einen Blick auf Europa gibt. Der Rassismus der Weißen wird mit großer Beiläufigkeit gezeigt, sofern sie nicht einfach gleich gespenstisch abwesend bleiben. Der Rest: eine nervöse Hatz durch die Nacht, die 2015 dunkler erscheint denn je. Lust: "Tokyo Tribe" Frust: "Unser letzter Sommer"
"National Gallery" von F. Wiseman
Ein Film mit vielen Stars: Leonardo, Dürer, Rubens. . . Ihre Werke blicken uns an in dieser Doku über die National Gallery in London - höchst lebendig auch durch die Arbeit der Ausstellungsführer, die mitreißend von ihnen erzählen. Bei Wiseman, ein Altmeister des Direct Cinema, geht es nicht nur ums Museum, er thematisiert Kunstvermittlung an sich. In einer schönen Szene rezitiert die Lyrikerin Jo Shapcott ihr Gedicht "Kallistos Song", eine Auseinandersetzung mit Tizians Gemälde "Diana und Kallisto". Poesie und Malerei begegnen sich - besonders aufregend, sagt sie, finde sie allerdings die Lücken: wo Sprache nicht zum Verstehen beiträgt, sondern es behindert. Wenn sie ihr Gedicht rezitiert und die Kamera die nackte, beim Baden überführte schwangere Nymphe und ihre Anklägerin Diana zeigt, ist der weite Raum zwischen Bild und Text, Vergangenheit und Gegenwart, sind die Spannung und auch die "Lücke" zwischen beiden förmlich zu hören. Lust: "Das brandneue Testament" Frust: "Hubert von Goisern - Brenna tut´s schon lang"
"Rico, Oscar und das Herzgebreche" von Wolfgang Groos
Es mag ein bisschen merkwürdig klingen, aber die Filmszene, die in diesem Jahr am meisten zurAuflösung von Geschlechterklischees beigetragen haben dürfte, bestreiten zwei Jungs und ein Jack-Russell-Terrier. Es ist der Schluss von Wolfgang Groos' "Rico, Oskar und das Herzgebreche", der Andreas-Steinhöfel-Verfilmung - und dem schönsten Kinderfilm des Jahres, was maßgeblich an den wunderbaren Kinderdarstellern Anton Petzold (links) und Juri Winkler liegt. "Willst du nicht bei uns schlafen?" fragt Rico, das tiefbegabte Kind seinen hochbegabten Freund Oskar. Da haben die beiden gerade ein großes kriminalistisches Abenteuer bestanden und Rico durfte den kleinen Hund der gefassten Bösewichtin vor dem Tierheim retten, weshalb der nun glücklich winselnd mit ihm im Bett liegt. Der übervorsichtige Oskar gibt kurz zu bedenken, dass Hunde Parasiten übertragen. Aber dann überkommt ihn ein Mutanfall und er krabbelt aus dem Schlafsack heraus und zu Freund und Hund ins Bett. Gesagt wird nichts, nur den Hund streicheln die zwei, kuscheln sich von beiden Seiten an ihn und lachen erleichtert. Da ist so viel Gefühl, so viel selbstverständliche Zartheit in diesem Jungs-Moment, dass man all den wilden Kerlen und Prinzessinnen, die der Kinderfilm sonst zu bieten hat, nur eines sagen kann: Schaut und lernt. Lust: "Die Tribute von Panem - Mockingjay 2" Frust: "Strange Magic"
"The Imitation Game" von Morten Tyldum
Benedict Cumberbatch spielt den Codeknacker Alan Turing. Er arbeitet in den Vierzigern für den englischen Geheimdienst - mit ein paar Zahnrädern, ein paar Kabeln, alles sehr überschaubar. Wenn man aber schließlich das Innere des Schuppens sieht, in dem er über Wochen rumorte, wird der Raum von einer Maschine eingenommen, an der sich Hunderte solcher Zahnräder befinden, neben-, über-hintereinander, die schiere Menge ist atemberaubend. Man erkennt: es handelt sich um das frühe Modell eines Computers, aber man erkennt auch, was das Kino kann: Es zeigt das Reale und das Abstrakte. Sichtbar wird nicht nur eine große Maschine, sondern zugleich das Ausmaß von Turings mathematischer Vorstellungskraft. Lust: "Lost River" Frust: "Als wir träumten"
"Victoria" von Sebastian Schipper
140 ungeschnittene Minuten als rauschhafter Trip durch eine Berliner Nacht, in der sich Männerfreundschaften bewähren, eine zarte Liebe beginnt und ein brutaler Banküberfall schiefläuft. Mit seinem Gespür für die Rituale von Freundschaft, Rivalität und Verletzlichkeit macht Sebastian Schipper den Zuschauer zum sechsten im Bunde der fünf Kids. Durch das Auge der Kamera von Sturla Brandth Grøvlen ist er immer ganz nah dran, zum Beispiel wenn sich zwischen der Titelheldin und dem Jungen Sonne ein hinreißend fragiler Flirt entspinnt, am frühen Morgen in einem geschlossenen Café, wo sie ihm am Klavier den Mephisto-Walzer vorspielt und von ihrem zerbrochenen Lebenstraum erzählt, während sich gerade ein neuer eröffnet. (Foto: dpa) Lust: "A Perfect Day" Frust: "Mädchen im Eis"
"Zweite Chance" von Susanne Bier
Die Wahrheit tut zuweilen weh. So schmerzhaft ist der Moment der Einsicht für den Drogenfahnder Andreas (Nikolaj Coster-Waldau) in dem dänischen Thriller "Zweite Chance", dass er den psychischen Druck nur durch einen autoaggressiven Impuls abbauen kann: Mit der bloßen Faust schlägt er ein Fenster ein. Der Zuschauer mag den Fausthieb wie einen Schlag ins eigene Gesicht empfinden. Denn nicht nur Andreas ließ sich von dem Gut-Böse-Schema täuschen, das "Zweite Chance" lange Zeit eindrucksvoll ins Bild setzt. Auch das Publikum nahm es dem Film nur allzu bereitwillig ab. Zu fest verankert sind unsere Vorstellungen davon, was ein intaktes und was defektes Leben ausmacht. Letzteres scheint sich im Film in Form einer dysfunktionalen Junkie-Familie zu präsentieren, gegen die Andreas' intakte Kleinstadtexistenz mit seiner jungen und schönen Frau sowie dem frischgeborenen Sohn gegengeschnitten wird. Doch das ist nur die Oberfläche. In Wahrheit trägt die Mutter, die wir als liebevoll wahrnahmen, ein dunkles Geheimnis in sich. Und die Frau, von der wir glaubten, sie sei eine Rabenmutter, wird in Wirklichkeit von Fürsorge getrieben. Die Wahrheit, mit der uns Oscar-Preisträgerin Susanne Bier in "Zweite Chance" konfrontiert, ist beunruhigend aufklärerisch. Denn es fällt schwer, die eigenen Klischeevorstellungen anzuerkennen. Lust: "Taxi Teheran" Frust: "Knight of Cups"