Favoriten der Woche:Paradies der Sinnlichkeit

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"Verschlingende Liebhaber": In Eva Fàbregas' farbintensiver Installation im Hamburger Bahnhof in Berlin wuchern Stoffwürste wie Gedärm in den Raum. (Foto: Jacopo La Forgia)

Die wulstigen Stoffskulpturen der Künstlerin Eva Fàbregas berühren und wollen berührt werden - und helfen gegen Einsamkeit. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Fritz Göttler, Tobias Kniebe, Jens-Christian Rabe, Wolfgang Schreiber und Sonja Zekri

Kunst: Stoffskulpturen von Eva Fàbregas in Berlin

Ein Raum wie ein Tusch: Mitreißend, vielversprechend, appellativ. Die mächtige Halle des Hamburger Bahnhofs in Berlin ist wie verwandelt. Um die kalten Metallstreben ranken sich Bälle und Blasen, Fäden und Schläuche, man sieht Tentakel, Blüten, Brüste. Die katalanische Künstlerin Eva Fàbregas lässt in der spätklassizistischen Architektur des Preußen Friedrich Neuhaus ein Feuerwerk in Gelb, Rot und Rosa, nein: Fleischfarben explodieren. Weiche, luftgefüllte Stoffskulpturen breiten sich auf dem Boden und an den Wänden aus, die bisweilen auf zarteste Weise vibrieren. Dieser Lebensäußerung hätte es nicht bedurft, man möchte die weichen Rundungen in jedem Fall anfassen, will sich hineinwerfen, will berühren und berührt werden. Zugleich ahnt man, dass das nicht ohne Risiko wäre. Denn erstens ist Berühren bedauerlicherweise verboten, und zweitens trägt Fàbregas' Schau den Titel "Devouring Lovers", "Verschlingende Liebhaber" (bis 14. Januar).

In der Tat erinnern die wuchernden Massen, all die haarigen Haufen, Stränge und Stiele nicht nur an Organe - innere Organe, Fortpflanzungsorgane -, sondern auch an Zellwesen, Organismen, an Pflanzen, vielleicht fleischfressende? Fàbregas, geboren 1988 in Barcelona, wohnhaft in London und Barcelona, bewegt sich mit ihrem Werk an der Grenze zwischen Umarmung und Strangulation, Ballbad und Sextoy, Verlockung und Ekel. Es ist ihre bislang größte Einzelausstellung, geschaffen nach ihren eigenen Zeichnungen. Und was soll man sagen: Eine bessere Schau für diese spezielle Jahreszeit in dieser speziellen Stimmung ist gar nicht denkbar. Einsamkeit ist ein großes Thema in diesen Tagen, der Triumph der künstlichen Intelligenz steht vor der Tür, gleichzeitig erreichen uns unerträglich grausame Nachrichten aus aller Welt. Wenn es da eine Künstlerin gibt, die die Gegensätze nicht versöhnt, sondern geradezu umarmt, die den kalten Stahl zum Schwingen bringen und mitten im Januar ein Paradies der Sinnlichkeit schafft, dann ist ein Besuch nicht nur empfehlenswert, er ist politisch geboten. Sonja Zekri

Graphic Novel: Ein Storyboard für Wim Wenders

In "Das Storyboard von Wim Wenders" erzählt Stéphane Lemardelé in Wort und Bild von seiner Arbeit mit Wim Wenders bei dem Film "Every Thing Will Be Fine". (Foto: Splitter Verlag)

"Ich zeichne mit Wim Wenders. Wahnsinn!" Im Januar 2014 fährt der kanadische Zeichner und Illustrator Stéphane Lemardelé nach Montreal, er soll für Wim Wenders das Storyboard zum neuen Film "Every Thing Will Be Fine" konzipieren. Stéphane erzählt von dieser Arbeit - wie die Szenen Einstellung für Einstellung erarbeitet, die Dekors gebaut werden, schließlich vom Dreh in Oka, Quebec, bei Temperaturen weit unter null (also auch über die Schönheit seiner kanadischen Heimat). Sein Comic-Buch "Das Storyboard von Wim Wenders" (Splitter, 153 Seiten, 29,80 Euro) ist ein eigenwilliges Dokument und ein liebevoller Exkurs in die Welt des Wim Wenders, über seine Ansichten vom Kino, von der Zukunft der Bilder und Geschichten und Filme - man kann es gut zu Wenders' neuem Film "Perfect Days" studieren, der gerade in den Kinos läuft. "Ohne Geschichten ist es unmöglich zu leben, sie lassen das Leben erträglich werden." Fritz Göttler

Fotobuch: Audrey Hepburn in aller Schönheit

Die unvergleichliche Audrey Hepburn auf einem ikonischen Foto aus den frühen Fünfzigern. (Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Wenn manchmal das Vertraute Trost verspricht, was verspräche wohl mehr Trost als ein Fotobuch über Audrey Hepburn? Man weiß ja schon, dass praktisch keine schlechten Aufnahmen von ihr existieren. Und auch wenn man die besten schon tausendmal gesehen hat - beim Blättern ist man doch gleich wieder entrückt in eine ferne, märchenhafte Zeit. Seit diesem Jahr verkauft der Verlag ACC Art Books aus dem beschaulichen Woodbridge in Suffolk seine tollen Bücher verstärkt auch in Deutschland, im Original - und dieser britische Blick setzt in "Always Audrey" (ACC Art Books, 288 Seiten, 44,99 Euro) noch einmal andere Akzente. Da gibt es zum Beispiel ein frühes Standfoto aus dem Film "Laughter in Paradise", London 1951, in dem die damals noch unbekannte Hepburn nicht mal eine Minute lang zu sehen ist, als "Cigarette Girl". Schwarzes Kleid als Arbeitsuniform, Bauchladen, riesige weiße Schleifen im Haar - man sieht, dass der Film eines Tages vergessen sein wird, Hepburn und dieses Foto aber nicht.

Auch damals sah man es: Das Magazin ABC Film Review druckte die Unbekannte mit den zwei Drehbuchsätzen prompt aufs Cover. Was einmal mehr zu der Erkenntnis führt, dass Starqualität in besonderen Fällen eben doch keine Ansichtssache ist. Die berühmte französische Schriftstellerin Colette warf noch im selben Jahr einen zufälligen Blick auf die Jungschauspielerin und erklärte, nur dieses Mädchen könne ihre Romanheldin "Gigi" am Broadway verkörpern - so geschah es. Und während dieser "Gigi"-Produktion entstanden bereits die ersten ikonischen, hier vollständig gezeigten Bildserien von ihr. Die jungen, aufstrebenden Fotografen jener Zeit, die dann in ihrem Metier alle Stars werden würden, sind in dem Buch versammelt: Lawrence Fried, Norman Parkinson, Milton H. Greene, Douglas Kirkland, Terry O'Neill. Und wie eine Art Coda stehen am Schluss die fünf Aufnahmen, die Eva Sereny 1989 am Set von Steven Spielbergs "Always" machen konnte, Hepburns letztem Filmauftritt. Da ist sie freundlich und präsent, steht aber doch mit mehr als einem Bein bereits in der Ewigkeit. Und trägt einen weißen Pullover, wie er eigentlich nur an Engel ausgegeben wird - so außerweltlich flauschig-überstrahlt, wie er leuchtet. Tobias Kniebe

Musikbiografie: die Pianistin Chen Pi-hsien

"Tastenforscherin zwischen Welten" heißt Michaela Fridrichs Porträt der taiwanisch-deutschen Pianistin Pi-hsien Chen. (Foto: edition text + kritik)

In Deutschland, dem Musikparadies, lebt seit Jahrzehnten eine begnadete Pianistin aus Taiwan, deren Name nicht sehr vielen Klassik-Aficionados zum Begriff wurde, aber den "Kennern". Wie kann das sein? Vielleicht weil Pi-hsien Chen ihr Musizieren nie dem Diktat einer Karriere unterwarf, den Renditen des Ruhms. Weil sie mit ihrer Musikalität ihre ganz eigenen Wege ging. Oder weil sie die "Goldberg-Variationen" und die Sonaten Mozarts, Beethovens, Schuberts ebenso tief verortet wie die knifflige Avantgarde eines Pierre Boulez, John Cage oder Karlheinz Stockhausen. Der Autorin Michaela Fridrich ist mit ihrem Paperback bei edition text + kritik das Porträt der Pianistin gelungen, sie nennt sie "Tastenforscherin zwischen Welten". Kaum verwunderlich, dass Pi-hsien Chen mit einem frühen Triumph sich nicht zufriedengegeben hatte: 21-jährig gewann sie 1972 den extrem harten Internationalen Musikwettbewerb der ARD in München.

Wer Michel de Montaignes altes Wissen bis heute für wahr hält, wie den Satz "Unser Suchen kann kein Ende finden", dessen Leben darf abenteuerlich verlaufen. Pi-hsien Chen kommt als hochbegabte Neunjährige aus Taipeh nach Köln und wird Schülerin, ja Tochter im Haus ihres neuen Klavierprofessors. Die künstlerische Entwicklung, mit persönlichen Krisen, verläuft rasant. Mit 17 studiert sie bei der legendären Russin Tatjana Nikolajewa, mit 19 übt sie Beethoven bei Meister Wilhelm Kempff in Positano, lernt von Claudio Arrau und Hans Leygraf. Pi-hsien Chen gewinnt Wettbewerbe, spielt in London und Washington, bereist Asien und Lateinamerika, wird Professorin in Köln, später in Freiburg. Seit 1975 ist sie deutsche Staatsbürgerin.

Frappierend die luzide Weite ihres Geistes, die Lust, in den Jahrhunderten Musikgeschichte das Alte mit dem Neuen, das Nahe mit dem Fernen zu verbinden. Im Buch erscheint Pi-hsien Chen, auch in Dialogen mit der Autorin, als die Musikerin, die ihre grenzenlose Wissbegier mit der Eleganz spontanen Denkens in Einklang bringt. Noch profunder als ihr künstlerisches Wissen und Können ist ihre "radikale Hingabe an die Musik". Und Pi-hsien Chen muss sich immer wieder wundern: "In Deutschland haben die größten Komponisten gelebt." Wolfgang Schreiber

Pop: die Liste der Listen

Mit ihrem Song "A & W" auf der Liste aller Jahreslisten ganz vorn: Lana Del Rey. (Foto: Imago)

Der leitende Popstar des Jahres war ohne Zweifel Taylor Swift, 26 Milliarden Streams ihrer Songs machten sie auch auf der größten Musik-Streaming-Plattform der Welt zum "Global Artist 2023". Der auf der Welt meistgehörte Song des Jahres auf Spotify ist mit 1,6 Milliarden Streams dennoch "Flowers" von Miley Cyrus. Wobei Highscore Pop-Bilanzen dieser Art ja nur das Unüberhörbare abbilden. Interessanter sind traditionell die diversen Kritiker- und Publikumslisten von Medien wie dem britischen Guardian, Wire, dem Rolling Stone oder Pitchfork.com. Wer es noch bequemer möchte, dem sei zur "List aggregate" der Seite Albumoftheyear.org geraten, der Liste, die alle Pop-Listen sammelt und das Meta-Ranking erstellt. Das Album des Jahres 2023 ist dort "The Record" von Boygenius, und unter den ersten fünf ist auch das grandiose neue Album "Javelin" von Sufjan Stevens. Der meistgeschätzte Song des Jahres ist Lana Del Reys "A & W", echte Entdeckungen versprechen aber gerade auch die hinteren Plätze. Jens-Christian Rabe

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