Bücher des Monats:Tanz auf dem Vulkan

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(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Außergewöhnliche Archäologen, mysteriöse Postkarten und neue Analysen des russischen Angriffskrieges. Das sind die Bücher des Monats Juni.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Zaubern mit Scherben

Gabriel Zuchtriegel: "Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt". Propyläen Verlag. 240 Seiten, 29 Euro. (Foto: Propyläen Verlag)

Gabriel Zuchtriegel ist kein akademischer Archäologe, der still vor sich hin gräbt, sondern einer, der anders denkt als die meisten seiner Kollegen: "Wenn wir als Gesellschaft in Denkmalschutz und Forschung investieren, was können Denkmalschutz und Forschung der Gesellschaft zurückgeben?" Das schreibt er nicht als rhetorische Frage, er lebt es. Seit 2021 leitet Gabriel Zuchtriegel den Archäologischen Park der durch einen Vesuvausbruch zerstörten antiken Stadt Pompeji. Der 42-Jährige gilt als Phänomen, als "Archäologe mit Schlagseite", er ist Sozialarbeiter, Marketing-Genie, Querulant, Überflieger, Aktivist. Dazu passt auch dieses so ungewöhnliche wie grandiose Buch. Es kommt als eine vielfach gebrochene Rechtfertigung und Doppelbiografie daher, weil die Geschichte Pompejis, beim legendären Vesuv-Ausbruchs 79 nach Christus verschüttet und ab 1748 wieder ausgegraben, mit der Lebensgeschichte seines Chefarchäologen verwoben wird. Die Persönlichkeit eines Forschers, seine Bildung, Religionszugehörigkeit, Vorlieben prägen seine Erkenntnisse, das hat das oberschwäbisch katholische Scheidungskind Zuchtriegel schon als Student bei dem Diskursanalysenvordenker Michel Foucault gelesen. Reinhard Brembeck

Rausch und Rituale

Paul-Philipp Hanske, Benedikt Sarreiter: "Ekstasen der Gegenwart. Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie". Matthes & Seitz, Berlin, 2023. 351 Seiten, 28 Euro. (Foto: Matthes & Seitz)

Youtube, Hip-Hop und Marina Abramovićs Kunstperformances kommen einem nicht zwingend in den Sinn, wenn man sich mit der Suche nach Spiritualität in der Ekstase beschäftigt. Rockmusik schon eher. Die Welle der Neo-Psychedelik mit ihren Selbsterfahrungsbeschleunigern wie Magic Mushrooms, Ayahuasca-Zeremonien und Schamanen sowieso. Aber genau dieser Horizont ist die Stärke des Buches "Ekstasen der Gegenwart", das die Sehnsucht nach Erlösung im Rausch in einen erstaunlich tiefen historischen Kontext setzt. Denn es gibt eben dieses Grundbedürfnis der Menschen nach Entgrenzungen, das sie in der Gegenwart in den unzähligen Subkulturen und Praktiken suchen. In den sanften Ausformungen gehört da Yoga genauso dazu wie die Suche nach dem "Flow"-Zustand in der Arbeit. Und auch Youtube und soziale Medien bedienen diese Mechanismen, wenn sie den Geist in die Tiefen eines sogenannten "Kaninchenbaus" ziehen. Leicht liest sich das alles nicht, die Dichte, mit der die beiden Autoren ihr Wissen vermitteln, ist enorm. Das ist auch der Grund, warum "Ekstasen der Gegenwart" nicht nur ein Buch zu einer Debatte ist, die gerade erst anläuft. Hanske und Sarreiter liefern keine Argumente, sondern ein Wissensfundament, auf dem man die eigenen Argumente aufbauen kann. Denn wie das alles ausgeht, ist keineswegs abzusehen. Andrian Kreye

Nichts als Gespenster

Anne Berest: Die Postkarte. Berlin Verlag, Berlin 2023, 554 Seiten, 28 Euro. (Foto: Berlin Verlag/Piper)

Die Sache mit der Postkarte fällt Anne erst wieder ein, als sie schwanger ist, zehn Jahre nach ihrem Eintreffen. Im Januar 2003 hat Annes Mutter Lélia die Familie um den Tisch zusammengerufen und sie allen gezeigt. Auf der Rückseite stehen vier Namen, kein Absender, adressiert ist die Karte an Annes verstorbene Großmutter. Ephraim steht darauf, Emma, Noémie, Jacques. Es sind Namen, die Anne kennt, aber sie gehören Menschen, von denen nie gesprochen wird: die ihrer Urgroßeltern und der Geschwister ihrer Großmutter, alle 1942 in Auschwitz ermordet. "Die Postkarte" von Anne Berest schlägt eine Brücke vom Antisemitismus der Vergangenheit zu jenem, den viele französische Juden heute beschreiben. Das Buch ist kein Meisterwerk der fein ziselierten Sprache oder dichterischen Kniffe; aber Anne Berest treibt ein wunderbares Spiel mit der Zeit. Was sie über ihre Familiengeschichte erfährt, erzählt Berest im Präsens; die Recherche und ihre Suche nach sich selbst beschreibt sie in der Vergangenheit. Die Zeitebenen vermengen sich, bis alle immer überall sind und man das Lachen von Noémie auf den Gängen jenes Mädchengymnasiums hört, das auch Anne besucht hat, ohne zu wissen, dass die Räume schon Teil der Familiengeschichte sind. Susan Vahabzadeh

Verdacht und Verrat

Mark Aldanow: Der Anfang vom Ende. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Weihe. Mit einem Vorwort von Sergej Lebedew und einem Nachwort von Andreas Weihe. Rowohlt Verlag. Hamburg 2023. 684 Seiten. 38 Euro. (Foto: Rowohlt)

Es ist Mitte der Dreißigerjahre, das barbarische 20. Jahrhundert strebt seinem Höhepunkt entgegen. Hitler regiert in Deutschland, der Duce in Italien, in Spanien kämpfen Francos Faschisten gegen die Republik. Stalin wütet in der Sowjetunion, wo die Revolution mit Heißhunger die eigenen Kinder frisst - es ist "Der Anfang vom Ende", so der Titel von Aldanows Roman. Sein Ton ist ironisch, teils sarkastisch, teils melancholisch, von einer bemerkenswerten Eleganz, die sich in Andreas Weihes deutscher Übertragung wunderbar liest. Fulminant sind die von psychologischen Zerreißproben und philosophischen Überlegungen getragenen inneren Monologe, die spitzen Gedankensplitter, die Aldanow seinen Figuren in Zwiegesprächen eingibt. Wie er die einzelnen Stränge verschränkt und zwischen verschiedenen Perspektiven hin- und herspringt, hat etwas Meisterliches. Zwischen Zeitpolitischem und Sozialpsychologischem, Künstler- und Gerichtsroman bewegt sich "Der Anfang vom Ende" und hat trotz seiner dezidiert antibolschewistischen Stoßrichtung nichts von einem Pamphlet. Nun erscheint das Meisterwerk erstmals auf Deutsch. Ulrich Rüdenauer

Allein gegen Hitler. Leben und Tat des Johann Georg Elser

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler. Leben und Tat des Johann Georg Elser. Verlag C.H. Beck München, 2023. 224 Seiten, 27 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: C. H. Beck)

Der Hitler-Attentäter Georg Elser ist trotz vieler Bemühungen noch immer eine der unbekannteren Personen aus dem Widerstand. Nun hat der Historiker Wolfang Benz, wie Elser selbst von der Ostalb stammend, seinem schwäbischen Landsmann ein würdiges Denkmal gesetzt. Einfühlsam und in bester Kenntnis der Menschen auf der Alb schildert Benz das Leben des Kunstschreiners, der ohne große Bildung und ohne politische Agenda seinem Gewissen folgte und 1939 zur Tat schritt - zu einem Zeitpunkt, als andere Hitlergegner noch zögerten und zauderten. Besonders wertvoll ist, wie Benz die Nachgeschichte des Attentats in der Bundesrepublik beleuchtet. Denn hier erfährt man auch, warum Elser zu Unrecht so lange hinter dem militärischen Widerstand zurückstehen musste. Cord Aschenbrenner

Sehenden Auges. Mut zum strategischen Kurswechsel

Stefanie Babst: Sehenden Auges. Mut zum strategischen Kurswechsel. dtv-Verlag, München 2023. 288 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: dtv)

Seit eineinhalb Jahren - also seit Russlands Angriff auf die Ukraine - steht die Nato im Zentrum des öffentlichen Interesses. Was geht in dem Bündnis vor? Ist es gut gerüstet für alle Fälle? Antworten kann Stefanie Babst geben. 22 Jahre hat die Politikwissenschaftlerin für die Nato gearbeitet, zuletzt leitete sie in der Zentrale des Verteidigungsbündnisses den strategischen Planungsstab. Was sie zu berichten hat in ihrer Analyse, ist ernüchternd und erhellend zugleich. Man war nicht gut vorbereitet auf Russlands Aggressionen, zumal nicht in Deutschland. Was jetzt zu tun ist und wie die Nato im Inneren reformiert werden müsste, erklärt Babst sachlich und klar. Pflichtlektüre für Freunde der westlichen Sicherheit. Matthias Kolb

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