Das Politische Buch:"Reduziere mal die Kernpunkte auf eine halbe Seite"

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Viele Rituale, viele Sprechzettel: Die Nato und ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg. (Foto: Yves Herman/REUTERS)

Stefanie Babst hat 22 Jahre für die Nato gearbeitet. Ihre Konzepte aus dem strategischen Planungsstab zu Russland und China wurden lange nicht sehr ernst genommen.

Rezension von Matthias Kolb

Vor klaren Positionen hat Stefanie Babst keine Angst. 22 Jahre hat die Politikwissenschaftlerin für die Nato gearbeitet, zuletzt leitete sie in der Zentrale des Verteidigungsbündnisses den strategischen Planungsstab. Sie hat sich also lange mit Krisen und Gefahren beschäftigt und mit ihrem Team Szenarien entworfen, damit sich die Nato auf mögliche Entwicklungen vorbereiten und zügig handeln kann.

Schon der Buchtitel "Sehenden Auges. Mut zum strategischen Kurswechsel" deutet an, dass Babst die gerade in Deutschland spürbare Überraschung über Russlands Angriff auf die Ukraine nicht teilt: Wütend macht sie diese Ignoranz. Es ist auch diese kalte Wut, die ihr Buch lesenswert macht. Fulminant seziert Babst die deutsche Russlandpolitik, die sie als "Jahre großer politischer und strategischer Blindheit" beschreibt. Ihrer Analyse des autoritären Putin-Regimes, "das Terror nach innen und außen" verbreite, merkt man an, wie intensiv sie sich seit Jahrzehnten mit Russland beschäftigt.

In der Nato werde Deutschland nicht als Führungsmacht gesehen

Besonders erhellend ist "Sehenden Auges" dort, wo Babst über das Innenleben der streng hierarchischen Nato, Deutschlands Scheitern als Führungsmacht im Bündnis sowie über strategisches Denken schreibt. Für Babst, seit 2020 nun als Beraterin tätig, steht fest: Deutschland und der Westen müssen gegenüber Russland bereit sein zur Konfrontation. In Berlin und Brüssel sollten daher zwei Ziele formuliert werden. Die Ukraine muss so umfassend unterstützt werden, dass sie den Krieg gewinnen kann, und Moskaus Möglichkeiten, seine außen- und militärpolitischen Ambitionen umzusetzen, gilt es "systematisch zu begrenzen und einzudämmen".

Babsts Argument: Erst wenn Ziele öffentlich bekannt sind, können die nötigen Schritte beschlossen werden. Im Falle Russlands, das Energie ebenso als Waffe einsetzt wie Hacker und Söldner, heißt dies: Wladimir Putin müssen die militärischen, finanziellen und technologischen Mittel genommen werden, damit er Länder wie die Ukraine, Moldau oder Georgien nicht mehr bedrohen kann.

Über Krawatten wird gern gelästert, offene Debatten gibt es eher selten

Als gut vernetzte Realistin weiß Babst, dass die 31 Nato-Staaten eine solche Position bei ihrem Gipfel Mitte Juli in Vilnius nicht einnehmen werden. Denn die Militärallianz funktioniert seit 1949 nach dem Konsensprinzip, das den USA ebenso ein Veto gibt wie Ungarn oder der Türkei, die weiter russlandfreundlich sind.

Stefanie Babst: Sehenden Auges. Mut zum strategischen Kurswechsel. dtv-Verlag, München 2023. 288 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: dtv)

Durch das Buch ziehen sich Schilderungen, was Babst bei der Nato erlebt hat: Von Treffen mit der einst optimistischen russischen Zivilgesellschaft bis hin zu jenen Arbeitsmittagessen und Dinners, bei denen die meist männlichen Diplomaten diskutieren und lästern, etwa über die Krawattenfarbe des deutschen Botschafters. Die Sitzungen laufen streng ritualisiert ab, dem Alphabet folgend werden die Sprechzettel aus den Hauptstädten abgelesen. Babsts Fazit: "Nur in sehr seltenen Fällen kommt eine direkte und interaktive Diskussion zustande." Auch über Chinas globalen Führungsanspruch und militärische Aufrüstung sei lange nicht geredet worden, klagt sie, obwohl ihr Team seit 2014 dazu Analysen verfasst habe.

Leicht verfremdet gibt Babst Verhandlungen mit dem Büro des Generalsekretärs wieder, ob die Botschafter die Analysen ihres Stabes sowie die möglichen Szenarien offiziell diskutieren dürfen. Gerade Jens Stoltenberg habe für solche Diskussionen über komplexe Zusammenhänge wie Russlands hybride Kriegsführung wenig Interesse gezeigt. Aus seinem Büro hieß es demnach oft: "Reduziere mal die Kernpunkte auf eine halbe Seite. Überhaupt darf das ganze Dokument nicht länger als vier Seiten sein." Also wurden die Szenarien gestrichen, denn zumindest zu Babsts Zeit ging es in der Nato "weniger um die Inhalte, sondern mehr um das Format".

Über ihr Buch lässt sich dies nicht sagen, denn es überzeugt in beiden Bereichen.

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