Deutsch-deutsche Geschichte:Als die Stasi den Reporter Eberhard Schellenberger bespitzelte

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Ein Wachturm am ehemaligen Grenzübergang Eußenhausen/Meiningen erinnert an den Verlauf des Eisernen Vorhangs und die deutsch-deutsche Teilung. (Foto: Eberhard Schellenberger)

Auf Hunderten Seiten dokumentierten die DDR-Agenten, wie Schellenberger seine Tage und Nächte verbracht und welchen Charakter er angeblich haben haben soll. Nun hat der Journalist ein Buch darüber geschrieben.

Von Olaf Przybilla, Würzburg

Um zu illustrieren, in welcher Region der BR-Journalist Eberhard Schellenberger aufgewachsen ist und später gearbeitet hat, lohnt ein längerer Blick ins unterfränkische Ermershausen. Am 19. Mai 1978 wäre dieser Ort an der deutsch-deutschen Grenze um ein Haar in die Weltschlagzeilen geraten, nur wusste die Welt davon lange überhaupt nichts. Die Geschichte hinter der Geschichte hat der Ermershäuser Bürgermeister erst viel später dem Bayerischen Rundfunk erzählt - und man muss sich 2022 nicht übermäßig anstrengen, um Schellenberger zu glauben, dass ihm bei dieser Schilderung kurz der Atem stockte. Ähnlich wie später beim Blättern in seiner Stasi-Akte.

Aber so weit ist es noch nicht, die Mauer steht 1978 ja noch; und das betrüblicherweise sehr fest. In jenem Jahr trieb die Menschen in Ermershausen ganz anderes um: die bayerische Gebietsreform. Ins nahe Maroldsweisach mochten sie nicht eingemeindet werden, der Freistaat wollte das schon - was in etwa so ist, als würde man Fürther kurzerhand zu Nürnbergern erklären. Ermershausen rückte also die Gemeindeakten nicht heraus, goss stattdessen die Rathausschlösser mit Blei aus. Was wiederum einige Hundertschaften der bayerischen Bereitschaftspolizei auf den Plan rief. Auftrag: Akten sicherstellen!

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Man mag daran erkennen, dass die Obrigkeit in jener Zeit nicht ausschließlich auf der östlichen Seite der innerdeutschen Grenze mitunter, nun ja, nicht alle Latten am Zaun hatte. Und in Ermershausen haben sie das an jenem Tag offenbar exakt so wahrgenommen. In den Berichten über den bayerischen Polizeieinsatz am Rathaus ging ihre Sponti-Aktion freilich komplett unter. Erst der Bürgermeister schilderte Jahre später, dass sich etwa vier Dutzend erboste Ermershäuser im Morgengrauen mit Kind und Kegel zum Grenzübergang begeben hatten, etwa 100 Meter vom Ort entfernt, und dort Anstalten machten, den Freistaat in Richtung Arbeiter- und Bauern-Staat zu verlassen. Nach dem Motto: Noch willkürlicher als hier kann's da drüben ja gar nicht zugehen.

Die DDR-Grenzer sollen beim Anblick der erbosten Unterfranken sogar Marschmusik aufgelegt haben, wohl um diese noch ein bisschen näher zu locken. Eigenen Angaben zufolge hielt erst der Ermershäuser Bürgermeister Adolf Höhn die eigenen Leute vom Übertritt ab. So kam die Schlagzeile "50 Bayern bitten um Asyl in der DDR" nicht zustande. Für die hätte sich die Welt vermutlich interessiert.

Der BR-Journalisten Eberhard Schellenberger wurde jahrelang von der Stasi ausgeschnüffelt und hat darüber ein Buch geschrieben hat. (Foto: Thomas Berberich/OH)

Nun könnte man das, aus rein journalistischer Sicht, ein beneidenswert spannendes Berichterstattungsgebiet nennen. Und Eberhard Schellenberger, 65, von 1996 bis 2020 Redaktionsleiter im BR-Studio Mainfranken, würde da auch gar nicht widersprechen. In Grenznähe aufgewachsen hatte er quasi sein gesamtes Berufsleben lang mit Geschichten aus einem geteilten und wiedervereinigten Landstrich zu tun - und verhehlt nicht, dass die ansonsten sorgsam gepflegten Regeln professioneller Distanz am 3. Oktober 1990 an eine Grenze stießen. Ob er da, bei der Wiedervereinigungs-Liveübertragung vom lange gottverlassenen Grenzübergang Eußenhausen/Meiningen, heimlich eine Träne verdrückt habe? "Nur eine?", fragt er zurück.

Was Schellenberger da noch nicht wusste: Wie akribisch sich die Stasi auch um ihn gekümmert hatte in all den Jahren - und nicht nur dann, wenn er aus Suhl berichtete, der DDR-Partnerstadt von Würzburg. Auf 400 Seiten konnte Schellenberger später nachlesen, wann er was berichtet, wie er seine Tage und Nächte verbracht und welchen Charakter er angeblich haben soll ("Er stellt eine Art Nationalfranke dar und fühlt sich sehr stark zu seiner Residenzstadt Würzburg hingezogen").

Den Echter Verlag muss man loben dafür, diese Stasi-Akte - sinnigerweise mit dem Decknamen "Antenne" - nun in großen Teilen im Wortlaut publiziert zu haben. Belegt dieses Dokument doch, mit welch sinn- und ergebnisfreien Tätigkeiten da ein Staat Hundertschaften von Schnüfflern versorgt hat. Erhellendes über Schellenberger oder die Arbeit von ARD-Reportern? Geht daraus nicht hervor - und gerade das macht diese Lektüre von Nichtigkeiten so faszinierend.

Unter dem Namen "Antenne" führte der Ostdeutsche Geheimdienst ihre Akte über Eberhard Schellenberger. (Foto: Eberhard Schellenberger)
Das heimlich von Eberhard Schellenberger gemachte Foto, das sich in seiner Stasi-Akte fand, änderte nichts daran, dass der bärtige Franke darin als "weiblich" geführt wurde. (Foto: Eberhard Schellenberger)

"Die politisch-ideologische Position Schellenbergers", analysiert etwa einer der mitunter rund um die Uhr observierenden Spitzel, "ist nicht exakt zu bestimmen". Angestellt beim BR ("journalistisch, feindlich, negativ") handele es sich bei Schellenberger um einen "Pragmatiker". Was man mit derlei brisanter Exklusivinformation als Folge einer "operativen Abschöpfung" in der Berliner Stasi-Zentrale angestellt haben mag? Schwer zu sagen. Womöglich hielten die Chefs ihre Kollegen aus dem fernen Suhl auch einfach für Luschen. Mit welcher Akkuratesse diese arbeiteten, mochte man daraus ableiten, welches Geschlecht sie "dem Schellenberger" (O-Ton Stasi) in der Akte allen Ernstes beimaßen: "weiblich".

Wobei nicht behauptet werden soll, dass all die "Maßnahmenpläne zur politisch-operativen Sicherung und Kontrolle des Aufenthalts von BRD-Korrespondenten" für die Katz gewesen sind. Zwar verfügt der BR heute über ein Riesenarchiv mit Berichten über Deutsch-Deutsches aus Franken. Jede Belanglosigkeit aber hat man nicht aufgehoben, schon aus Platzgründen. Dafür konnte Schellenberger längst vergessene Beiträge in seiner Stasi-Akte nachlesen, Zeile für Zeile protokolliert.

Nach nahezu 200 surrealen Seiten von Schellenbergers Buch "Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi" - das am 3. Oktober im Würzburger Theater am Neunerplatz vorgestellt wird - bleibt mindestens eine Gewissheit: Zu blöd war sich die Stasi wirklich für gar nichts.

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