30 Jahre Akteneinsicht:Offene Geheimnisse der Stasi

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Akteneinsicht: Der damalige Innenminister Rudolf Seiters (CDU) im Juni 1992 mit dem Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, Joachim Gauck. (Foto: Andreas Altwein/picture-alliance / ZB)

Seit 30 Jahren dürfen Bürger der ehemaligen DDR Unterlagen der Geheimpolizei einsehen. Noch nie wurden Verbrechen einer Diktatur derart aufgearbeitet.

Von Robert Probst, München

Diese beiden Sätze vollendeten einen politischen Umsturz: "Jeder Einzelne hat das Recht, vom Bundesarchiv Auskunft darüber zu verlangen, ob in den erschlossenen Unterlagen Informationen zu seiner Person enthalten sind. Ist das der Fall, hat der Einzelne das Recht auf Auskunft, Einsicht in Unterlagen und Herausgabe von Unterlagen nach Maßgabe dieses Gesetzes." Vor 30 Jahren, am 29. Dezember 1991, trat das "Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz - StUG)" in Kraft. Es war das Ergebnis dessen, was die Bürger der ehemaligen DDR zwei Jahre zuvor erkämpft hatten: dass die Unterlagen der Stasi und all ihrer Verbrechen nicht in den Schreddern der Geschichte verschwanden, sondern erhalten blieben.

Und noch wichtiger: Nie zuvor war das Geheimwissen einer Diktatur einer demokratischen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt worden. Am 2. Januar 1992 nahmen die ersten Betroffenen Akteneinsicht, wie es so schön auf Bürokratendeutsch heißt.

Was die Menschen, die einst ins Visier der innenpolitischen Geheimpolizei der Regierungspartei SED geraten waren, dann in den Lesesälen der Stasi-Unterlagen-Behörde vorgesetzt bekamen, war meistens alles andere als schön. Berge voller akribisch geführter Akten mit zahllosen Banalitäten, aber auch Details zu persönlichsten Angelegenheit. Menschen aus der allernächsten Umgebung, Freunde, Familienmitglieder, Ehepartner, die einen bespitzelt und verraten hatten. Es sei gewesen, "wie das eigene Leben auf den Kopf gestellt und seitenverkehrt zu sehen - wie in einem Zerrspiegel", so schildern es Betroffene. Besonders diffizil gestaltete sich von Anfang an die Frage nach dem Schutz der Persönlichkeitsrechte anderer Betroffener oder Dritter. Die Namen von hauptamtlichen und "inoffiziellen Mitarbeitern" (IM) blieben jedoch ungeschwärzt, das Recht, den Klarnamen des IM zu erfahren, besteht ebenso. Auch öffentliche Einrichtungen durften in der Behörde anfragen, ob jemand mit dem MfS zusammengearbeitet hatte.

Im Selbstverständnis hatte sich das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als "Schild und Schwert der Partei" verstanden. Unter diesem Blickwinkel wurden Vorstellungen und Haltungen von Menschen in der DDR, die von der SED-Norm abwichen, kritisch gesehen und oft als "staatsfeindliche Bestrebungen" verfolgt. Zuletzt bestand die Stasi aus mehr als 91 000 hauptamtlichen und mehr als 170 000 inoffiziellen Mitarbeitern. Sie hatten Akten über sechs Millionen Menschen angelegt. Nach dem Fall der Mauer besetzten Bürgerinnen und Bürger in allen Bezirken und Kreisen der DDR wichtige Behörden und lähmten somit die Aktenvernichtungsaktionen. Von höchster geschichtlicher Bedeutung war der Sturm auf die Zentrale des MfS in Berlin-Lichtenberg am 15. Januar 1990. Vieles, was damalige Mitarbeiter des Stasichefs Erich Mielke bereits zerschnippelt oder anderweitig zerstört hatten, wurde später in detektivischer Kleinarbeit wieder zusammengesetzt.

3,37 Millionen Anträge zur persönlichen Akteneinsicht

Nicht nur der Berliner SED-Aufarbeitungsbeauftragte Tom Sello spricht von einer Erfolgsgeschichte. "Es war ein großer Sieg in der Revolution, dass es uns gelungen ist, einen Großteil der Stasi-Unterlagen zu bewahren und letztendlich auch die Öffnung der Akten zu erreichen", sagte der ehemalige Bürgerrechtler der dpa. Die Möglichkeit zur Akteneinsicht habe zum gesellschaftlichen Frieden beigetragen. Bis heute wurden 7,4 Millionen Anträge gestellt, davon 3,37 Millionen zur persönlichen Akteneinsicht. "Man konnte sehen: Was wusste die Stasi, wer war daran beteiligt und wer war nicht daran beteiligt", sagte der 64-Jährige. "Das war für viele in ihrer Selbstvergewisserung ein wichtiger Aspekt."

Im Juni 2021 wurden die Akten nach erbitterten Debatten von der ehemaligen Stasi-Unterlagen-Behörde ins Bundesarchiv übertragen. Die Akteneinsicht für Privatpersonen bleibt weiterhin möglich. Der erste Bundesbeauftragte, Joachim Gauck, einst Bürgerrechtler, später Bundespräsident, sieht heute im Umgang mit den gesicherten Stasi-Akten "gigantische Erfolge". Diese kamen auch deshalb zustande, weil die, die 1989-91 nach einem Schlussstrich gerufen hatten, sich anders als nach der NS-Diktatur diesmal nicht durchsetzen konnten.

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