Zwist um Lehrer in Dillingen:Eine umstrittene Form des Vergebens

Lesezeit: 4 min

Klassenzimmer sollen geschützte Räume für Schüler und Schülerinnen sein. Leider gehen Lehrer immer wieder sexuelle Verhältnisse mit den ihnen anvertrauten jungen Menschen ein. (Foto: Philipp von Ditfurth/dpa)

Das katholische Schulwerk Augsburg lässt einen Lehrer in Dillingen, der ein Verhältnis mit einer 17-jährigen Schülerin hatte, wieder unterrichten. Unter Experten sorgt der Fall für Kopfschütteln.

Von Rainer Stadler

Noch vor wenigen Wochen war es für Peter Kosak, den Leiter des katholischen Schulwerks Augsburg, vor allem eine moralische Frage: Kann einem Menschen, der ein schweres Vergehen begangen hat, vergeben werden? An einem Gymnasium des schwäbischen Schulträgers in Dillingen unterrichtet seit Sommer ein Lehrer, der ein Verhältnis mit einer 17-jährigen Schülerin hatte. Er verlor deshalb den Beamtenstatus und musste die Schule verlassen. Das Schulwerk Augsburg, das im schwäbischen Teil Bayerns mehr als 40 Privatschulen betreibt, entschloss sich, ihm eine "zweite Chance" zu geben, wie Kosak es formuliert. Nach Berichten über den Fall in der Süddeutschen Zeitung und anderen Medien berief er in dem Gymnasium eine Elternversammlung ein. Am Ende gab es eine Abstimmung: 97 Prozent der Eltern sprachen dem Schulwerk ihr Vertrauen für die Entscheidung aus, den Lehrer weiter zu beschäftigen. Aus Sicht eines christlichen Trägers, sagte Kosak daraufhin, müsse es immer Vergebung geben. Der Lehrer war beim Elternabend anwesend und habe "tiefe, tiefe Reue" gezeigt.

Vergeben, vergessen? Offenbar sehen die Verantwortlichen die Lage inzwischen anders, nachdem die öffentliche Kritik am Vorgehen des Schulwerks - trotz des klaren Votums der Eltern - nicht verstummt ist. Am Donnerstagnachmittag informierte Kosak das Gymnasium, dass der Lehrer künftig doch nicht mehr unterrichten solle. Er werde eine Stelle in der Verwaltung des Schulwerks antreten, von März an, wenn sein Jahresvertrag als Lehrer abgelaufen sei. Wie kommt es zu der Kehrtwende? "Diese Entscheidung wurde getroffen, um die Situation für alle Beteiligten zu beruhigen", erklärt Kosak auf Anfrage.

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Unter Experten sorgt der Fall seit Monaten für Kopfschütteln. Kerstin Claus, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, kritisiert, mit der Entscheidung des Schulwerks, dem Lehrer eine zweite Chance zu geben, werde "die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen in Kauf genommen". Claus sieht darin einen "Ausdruck der Loyalität unter Erwachsenen", deren Interessen "über den bestmöglichen Schutz von Schüler*innen" gestellt würden. Über die Beschäftigung des Lehrers bei einem Elternabend abstimmen zu lassen, ist nach Ansicht der Missbrauchsbeauftragten unangemessen: "Eine Bildungseinrichtung sollte ihren Kinderschutzauftrag nicht vom Votum der Eltern abhängig machen."

Damit werde das, "was jungen Menschen angetan wurde, komplett bagatellisiert"

Johannes Heibel, Vorsitzender der "Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen", hält es für "ein unverantwortliches Experiment, einen Lehrer, der sich an einer Schülerin vergangen hat, weiter unterrichten zu lassen". Die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler müsse oberste Priorität haben. Eine junge Frau, die laut eigener Aussage als 16-Jährige von einem Lehrer verführt wurde und von dem Fall las, wandte sich mit einem Brief an das Gymnasium. Sie appellierte an die Leitung, "uns Betroffenen eine Stimme zu geben, die ganz klar sagt, dass jemand, der seine Position als Lehrer ausgenutzt hat, nie wieder an einer Schule unterrichten sollte". Andernfalls werde der Gesellschaft suggeriert, "dass so etwas einfach vergeben werden kann, wenn die Täter nur genug Reue zeigen". Damit werde das, "was jungen Menschen angetan wurde, komplett bagatellisiert".

Die Betroffene in diesem Fall studiert inzwischen. Sie war nach den Treffen mit dem Lehrer, bei dem es zum Austausch von Zärtlichkeiten und einmal auch zum Geschlechtsverkehr kam, monatelang in Behandlung. Ein Psychotherapeut attestierte ihr Depressionen und eine posttraumatische Belastungsstörung, ihr Leistungsvermögen sei nach dem Übergriff durch den Lehrer beeinträchtigt. Weil sie damals Angst um ihr Abitur hatte, war sie erst zwei Jahre später, nach der letzten Prüfung, bereit, mit der Schulleitung über die Treffen mit dem Lehrer zu sprechen. Die Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet, stellte aber bald ihre Ermittlungen ein - nicht zuletzt, weil die Schülerin damals angegeben hatte, sie sei von dem Lehrer zu nichts gezwungen worden. Das sieht sie auch heute so. Dennoch hadert sie damit, wie die Staatsanwaltschaft den Fall abhandelte. Die Behörde sei von einem einvernehmlichen Verhältnis ausgegangen und habe ihre Zwangslage völlig ignoriert. Der Lehrer unterrichtete und benotete sie in Mathematik, einem Fach, in dem sie große Schwierigkeiten hatte.

Im Kultusministerium wusste man, dass der Lehrer wieder unterrichten sollte

Während in den Augen der Staatsanwaltschaft keine Straftat vorlag, trieb die Landesanwaltschaft Bayern ein Disziplinarverfahren gegen den Lehrer voran, um ihn aus seinem Dienst zu entfernen. Dem kam der Lehrer zuvor, indem er auf seinen Beamtenstatus verzichtete. Juristisch sprach damit nichts dagegen, dass er sich bei einem privaten Träger um eine neue Stelle bewirbt. Eine Mitarbeiterin des bayerischen Kultusministeriums vereinbarte mit dem Schulwerk und dem Lehrer sogar Bedingungen für dessen neue Anstellung. Er sollte sich in Therapie begeben und künftig nicht mehr in der Oberstufe des Gymnasiums unterrichten, sondern nur noch Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Unterstufe.

Die Parteien im Landtag sind in dem Fall bisher nicht aktiv geworden. Der bildungspolitische Sprecher der FDP etwa, Matthias Fischbach, findet anhand dessen, was die Medien berichteten, nichts zu beanstanden am Verhalten der Schulen, Behörden und des Ministeriums. Die Grünen fordern allgemein, Schulen sollten künftig Schutzkonzepte vorweisen, um sexuelle Gewalt an Schülerinnen und Schülern zu verhindern.

Dass nun dennoch Bewegung in den Fall kam, ist wohl vor allem den Aktivitäten des Kinderschützers Johannes Heibel zuzuschreiben. Er nahm schon vor Monaten Kontakt mit der Betroffenen auf, sprach mit weiteren ehemaligen Schülerinnen, die schlechte Erfahrungen mit dem Lehrer gemacht hatten, drängte das Schulwerk, den Mann nicht im Unterricht einzusetzen, informierte Verantwortliche in Politik und Kirche. Er sieht auch die jetzige Lösung kritisch: "Warum darf der Lehrer noch bis März unterrichten, warum wird er nicht sofort freigestellt?" Womöglich wolle das Schulwerk nur Zeit gewinnen und den Lehrer, wenn Ruhe eingekehrt ist, doch wieder unterrichten lassen, argwöhnt Heibel. Er werde den Fall weiter beobachten.

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