So gegensätzlich die Meinungen zum geplanten Windpark im Staatsforst zwischen Altötting und Burghausen sein mögen, in einem sind sich beide Seiten einig: Um die Industrie im bayerischen Chemiedreieck mit Strom zu versorgen, hätten weder die von der Staatsregierung und der Wirtschaft gewünschten 40 Windräder gereicht, noch werden es die vorerst 30 Anlagen tun, die nach dem Bürgerentscheid von Mehring noch übrig sind. Gerade mal ein Zehntel des jetzigen Strombedarfs könnten die Windräder produzieren, weshalb sie sich in den Augen der einen sowieso nicht lohnen, während die Region nach Ansicht der anderen wenigstens einen kleinen Teil des nötigen grünen Stroms selbst erzeugen sollte. Der Großteil muss ohnehin von außen kommen. Der Bund und die Netzbetreiber Tennet und Bayernwerk planen deswegen zwei neue Höchstspannungsleitungen, die von Norden her ins Chemiedreieck führen.
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Am Mittwoch haben Industrievertreter und Netzbetreiber im oberbayerischen Altötting die Politiker der Region über den Stand der Planungen informiert. Demnach soll bis zum Jahr 2030 eine neue 380-Kilovolt-Freileitung von Zeilarn im niederbayerischen Landkreis Rottal-Inn an Marktl, Burghausen und Mehring vorbei nach Pirach bei Burgkirchen im Süden des Chemiedreiecks führen. Diese Höchstspannungstrasse wird dann eine weniger leistungsfähige 220-kV-Leitung ersetzen, die etwas weiter westlich verläuft. Neben diesen schon länger bekannten Plänen will der Netzbetreiber Tennet nun eine weitere 380-kV-Trasse aus dem Raum Simbach über den Inn bis zu den großen Industriearealen bei Burghausen bauen. An beiden Enden sollen große neue Umspannwerke mit einem erheblichen Flächenbedarf von jeweils 20 bis 30 Hektar entstehen. Die exakten Standorte stehen aber noch ebenso wenig fest wie der genaue Verlauf der Freileitung.
Dennoch soll die zusätzliche, rund 15 Kilometer lange Trasse ins Chemiedreieck laut Tennet spätestens 2035 in Betrieb gehen. Sie ist unter dem Kürzel P474 bereits Teil des bundesweiten Netzentwicklungsplans, den die Bundesnetzagentur am 1. März formell bestätigt hat und der auch fünf übergeordnete neue Gleichstromtrassen enthält, die große Mengen Windstrom aus dem Norden in den Süden der Republik transportieren sollen. Industrievertreter aus dem Chemiedreieck haben schon seit einigen Jahren eine weitere 380-kV-Leitung gefordert, unter anderem vor einem Jahr direkt bei Parlamentariern und der Bundesregierung in Berlin. Der Ausbau des Stromnetzes müsse "schnellstmöglich und ohne Verzögerungen erfolgen", verlangte der Sprecher des Interessenverbands Chem-Delta Bavaria, Bernhard Langhammer, auch am Mittwoch.
Denn der Energiehunger von Firmen wie Wacker Chemie und OMV in Burghausen oder den Unternehmen im Chemiepark Gendorf bei Burgkirchen ist schon jetzt enorm. Ungefähr fünf Terawattstunden Strom brauchen die Unternehmen im Chemiedreieck pro Jahr, was ungefähr einem Prozent des Strombedarfs in ganz Deutschland entspricht. So rechnet es Chem-Delta-Sprecher Langhammer bei jeder Gelegenheit vor und weist auch am Mittwoch darauf hin, dass sich dieser Strombedarf "in den nächsten Jahren fast verdreifachen" werde. Denn die Unternehmen wollen und müssen fossile Energieträger durch regenerativ erzeugten Strom ersetzen, wenn sie ihre eigenen und die staatlichen Klimaziele auch nur ansatzweise erreichen wollen. So soll der für bestimmte Produktionsprozesse unverzichtbare heiße Dampf laut Langhammer künftig nicht mehr mit Gaskraftwerken, sondern mit strombetriebenen Wärmepumpen erzeugt werden.
Zugleich werden viele Chemieunternehmen das Erdöl, das seit Ende der 1960er-Jahre durch die transalpine Pipeline TAL aus dem italienischen Adriahafen Triest nach Bayern fließt, nicht nur als Energieträger ersetzen müssen, sondern auch als Grundstoff für ihre Produkte. Die Branche setzt hier große Hoffnungen in den Wasserstoff und fordert auch dafür neue Infrastruktur in Form von Pipelines. Soll oder muss der Wasserstoff zu größeren Teilen durch Elektrolyse vor Ort erzeugt werden, würde das den gegenwärtigen Bedarf im Chemiedreieck langfristig wohl annähernd verzehnfachen.
Für die chemische Industrie in der Region ist die neue Leitung deswegen von ungleich größerer Bedeutung als noch so viele Windräder im Staatsforst. Dass eine Stromversorgung nicht gesichert ist, hat nach Angaben des Burgkirchener Bürgermeisters Johann Krichenbauer (FW) zuletzt schon zwei Unternehmensansiedlungen aus anderen Branchen mit zusammen mehr als 200 Arbeitsplätzen verhindert. Für ein großes Rechenzentrum hätten die Netzbetreiber demnach nicht genügend Strom garantieren können - und für den Betreiber von großen Batteriespeichern habe es schlicht nichts zu speichern gegeben.
Tennet will nach Angaben von Thomas Erhardt-Unglaub, der im Unternehmen für den Netzausbau im Südosten zuständig ist, in das Gesamtprojekt eine höhere dreistellige Millionensumme investieren. Ebenfalls noch einen dreistelligen Millionenbetrag steckt der Betreiber Bayernwerk Netz laut Geschäftsführer Robert Pflügl in seine untergeordneten Umspannwerke und seine 110-Kilovolt-Hochspannungsleitungen, die den Strom aus den Tennet-Trassen weiter verteilen. Die Bayernwerk Netz werde dabei weitgehend mit Erneuerungen und Modernisierungen auskommen.
In der Region hat es schon über die erste 380-kV-Leitung einige Diskussion gegeben - zunächst über die Notwendigkeit und am Ende über die genaue Trassenführung. Ähnliches muss der Altöttinger Landrat Erwin Schneider (CSU), der seinen Landkreis ohnehin "fast im Zentrum des strompolitischen Orkans" sieht, nun voraussichtlich auch für die nächste Trasse erwarten.