Dass die Holzkirchner zuletzt über eine weitere Umfahrung für ihre Marktgemeinde abgestimmt hatten, ist schon 19 Jahre her. Fast drei Viertel derjenigen, die 2003 mitstimmten, hatten sich damals für eine Südumfahrung ausgesprochen. Gebaut wurde die neue Straße in der Zwischenzeit jedoch nicht, und aus heutiger Sicht ist das offenbar gut so. Denn am Sonntag waren die Holzkirchner nach einem von den Gemeinderäten beschlossenen Ratsbegehren abermals aufgefordert, über eine Südumgehung zu befinden. Mehr als die Hälfte der 13 000 Wahlberechtigten haben abgestimmt, ein hoher Wert für einen Bürgerentscheid - zumal für einen, der nicht gleichzeitig mit einer Wahl stattfand. Noch deutlicher aber war am Sonntagabend die Entscheidung: 59,42 Prozent wollen im Jahr 2022 von einer Holzkirchner Südumfahrung über die grüne Wiese nichts mehr wissen, 70,15 Prozent lehnen die anschließende Umfahrung um Großhartpenning und Kurzenberg ab.
Damit folgen die Holzkirchner dem Beispiel, das die Einwohner der oberbayerischen Kreisstadt Weilheim vor vier Wochen gegeben haben: Immerhin acht Varianten für eine Umfahrung waren dort zur Debatte gestanden, doch eine klare Mehrheit von 54,6 Prozent hatte überhaupt keine dieser vielen Varianten verwirklicht sehen wollen. In beiden Fällen könnten die Bürger mit ihren Entscheidungen jahrzehntelange Planungen beendet haben, denn beide Male hatten die zuständigen Bauämter zuvor beteuert, das Ergebnis akzeptieren zu wollen. Sind also die Zeiten vorbei, in denen Lokalpolitiker Umfahrungen als Allheilmittel für sämtliche Verkehrsprobleme fordern konnten und die Behörden schnell mit großzügigen Planungen zur Stelle waren?
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Die beiden Bürgerentscheide in Holzkirchen und Weilheim liegen jedenfalls im Trend. Das sagen sie sowohl beim Verein "Mehr Demokratie" in Bayern, der die direkte Demokratie und damit Bürger- und Volksbegehren stärken will, als auch beim Gemeindetag und in der Umweltszene. Zwischen 2020 und 2022 habe es deutlich mehr Bürgerentscheide für mehr Umweltschutz in der Verkehrspolitik der bayerischen Kommunen gegeben als noch 20 Jahre zuvor, sagt Simon Strohmenger von Mehr Demokratie. Außerdem gingen die jeweiligen Entscheide deutlich öfter zugunsten des Umweltschutzes aus als früher. Zwar seien aktuell noch vergleichsweise viele Verfahren offen. Aber von den 16 abgeschlossenen seien zwölf für mehr Umweltschutz ausgegangen, nur vier seien gescheitert. Vor 20 Jahren hätten sich die erfolgreichen und die gescheiterten Entscheide in etwa die Waage gehalten.
"Gerade in der jüngeren Generation sind die Themen Umweltschutz, Flächenfraß und Klimakrise voll angekommen", meint auch Wilfried Schober vom Bayerischen Gemeindetag, "aber auch unter den älteren Leuten sagen inzwischen viele, dass immer neue Umgehungsstraßen nichts gegen den immer stärkeren Autoverkehr ausrichten können." Auch er selbst höre immer öfter die Forderung, "dass man endlich das Übel an der Wurzel packen und den Autoverkehr reduzieren muss" - sei es, indem man den öffentlichen Nahverkehr stärkt oder mehr auf alternative Verkehrsmittel wie E-Bikes setzt.
Viele Räte schrecken vor Projekten zurück
Zugleich machen sie im Gemeindetag die Erfahrung, dass sowohl manche Bürgermeister als auch ganze Gemeinderäte davor zurückschrecken, sich auf ein großes Infrastrukturprojekt festzulegen, und lieber erst einmal die Bevölkerung dazu befragen. "So ein Planungsprozess ist ja etwas sehr Aufwendiges, das betrifft das Personal ebenso wie die Kosten und den Zeitaufwand", sagt Schober. "Da wollen Kommunalpolitiker immer öfter das Risiko vermeiden, dass ihnen das alles hinterher per Bürgerentscheid wieder zerschossen wird."
Genau das aber macht die Bürgerentscheide aus der Sicht des Gemeindetagspräsidenten Uwe Brandl (CSU) zum Problem. "Denn es sind ja die Anlieger an der Durchgangsstraße, die leiden und die Umgehung wollen", sagt Brandl, der auch Bürgermeister im niederbayerischen Abensberg ist. "Gemessen an der Gesamtbevölkerung einer Gemeinde sind sie allerdings in der Minderheit und werden leicht überstimmt." Auch Gemeindetagssprecher Schober sagt, "eigentlich sind es ja der Bürgermeister und der Gemeinderat, die über solche Projekte entscheiden und dabei die unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung abwägen sollten".
Wie auch immer: Bei den Umweltverbänden ist die Freude jedenfalls groß über den Ausgang der Abstimmungen in Holzkichen und in Weilheim. "Wir sind offenkundig nicht mehr alleine mit unserer Forderung nach einer neuen Verkehrspolitik", sagt der Vorsitzende des Bundes Naturschutz (BN), Richard Mergner. "Immer mehr Menschen verlangen sie ebenfalls." Dazu zählt Mergner ausdrücklich auch die Landwirte. "Wenn es gegen eine unsinnige Straße geht, kommt es inzwischen immer häufiger vor, dass sich auf unseren Veranstaltungen gleich nach mir eine Kreisbäuerin oder ein Vertreter des Bauernverbands gegen den Flächenfraß ausspricht", berichtet Mergner. Für ihn ist auch der immense Zuspruch zum 9-Euro-Ticket in diesem Sommer ein starker Beleg dafür, dass "die Menschen eine Verkehrswende wollen".
Da und dort wollen die Menschen freilich auch immer noch gerne Umfahrungen. Durch einen neuen, 600 Meter langen Tunnel bei Bertoldshofen im Ostallgäu etwa zuckten am Wochenende bunte Lichter. Tausende kamen zur Tunnelparty, um die Einweihung zu feiern. Dabei waren viele Besucher noch gar nicht geboren, als die ersten Diskussionen über Ortsumfahrungen für Bertoldshofen und Marktoberdorf losgingen - vor mehr als 30 Jahren. Die letzten Klagen gegen die Trassenführung wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof 2016 ab. Nun ist der Tunnel fertig und soll noch vor Weihnachten für den Verkehr freigegeben werden. 100 Millionen Euro investiert der Bund in die Infrastruktur rund um Marktoberdorf, allein 52 Millionen davon entfallen auf den Tunnel. Kritik an einem der größten Verkehrsprojekte in Schwaben war schon länger nicht mehr zu vernehmen.