Der einprägsamste Ort, um sich über den Alten Kanal Gedanken zu machen? Vielleicht ist das sogar das Kanaldenkmal in Erlangen, einer der unwirklichsten Flecken im Freistaat. An dessen Fuß tost der Lärm einer Landstraße, einer Ausfallstraße und einer Autobahn, genannt "Frankenschnellweg". Und darüber thront dieses Riesenmonument, mit dem per Inschrift daran erinnert wird, dass bereits Karl der Große versucht habe, "Donau und Main für die Schifffahrt" miteinander zu verbinden - dies aber am 15. Juli 1846 erst Ludwig I. vergönnt sein sollte, dem bayerischen König.
Warum man ausgerechnet dort, an diesem maximal unbehaglichen Ort, besonders gut über den Alten Kanal grübeln kann? Weil man dort erstens ein Gefühl dafür bekommen kann, warum Bayerns längstes Denkmal ein so stiefmütterliches Dasein im Bewusstsein vieler fristet - wer danach fragt, schaut allzu oft in leere Gesichter. Und weil zweitens diese Geschichte eines allmählichen Vergessens schon dort, an jenem Monument, begonnen haben dürfte. Und zwar bereits zu Königs Zeiten. Nach zehn Jahren Bauzeit, nach Fertigstellung einer Wasserstraßenverbindung des "Orient mit dem Occident", wie die Zeitgenossen jubelten, nach dieser ingenieurtechnischen Meisterleistung sondergleichen wurde dort 1846 zwar ein eigens komponierter Kanalwalzer aufgespielt. Einer aber fehlte: der König selbst, ihre Majestät, der Antreiber, Durchsetzer und Verwirklicher dieses historischen Großprojekts. Das ist in etwa so, als würde Edmund Stoiber die Einweihung des Transrapid am Münchner Hauptbahnhof schwänzen - hätte es die denn gegeben.
Ob da einer - also Ludwig, nicht Stoiber - ein historisch feines Näschen dafür gehabt hat, dass es mit dem künstlichen Flusslauf alsbald schon den Bach runter gehen sollte? Wolf-Dietrich Nahr lässt das in seinem berückend schön bebilderten Band "Menschen am Alten Kanal. Leben an König Ludwigs Wasserstraße" (erschienen 2022 im Battenberg Gietl Verlag) bewusst offen. Man weiß es schlicht nicht. Der Verdacht aber läge schon nahe: Immerhin war es der König selbst, der seine paneuropäisch angelegte Wasserstraße - an der Quellen zufolge bis zu 9000 Menschen mitgearbeitet haben sollen - der direkten Konkurrenz eines anderen modernen Transportmittels aussetzte: der Eisenbahn. Auf der von Ludwig I. vorangetriebenen Trasse durch sein Königreich konnte man Waren mit deren Hilfe ungleich günstiger und auch noch rascher durchs Land transportieren als mit den Treidelschiffen auf dem sündteuren Kanal.
Der Alte Kanal war nur wenige Jahre profitabel. Alsbald ging's schwer bergab.
Zwar erwies sich die 170 Kilometer lange Wasserstraße von Kelheim nach Bamberg - heute insgesamt fünf bayerische Regierungsbezirke durchmessend - ein paar Jahre lang als durchaus profitabel. Alsbald aber ging's schwer bergab. Bis der Alte Kanal an Stellen wie jener im Norden Erlangens, an besagtem Kanaldenkmal, schonungslos mit Autotrassen überbaut wurde und heute nur noch mit viel Fantasie als Idee erkennbar ist; an anderen Stellen wiederum, vor allem zwischen Berching und der südlichen Grenze Nürnbergs, zum Monument geworden ist. Ein Denkmal allerdings, das höchst unterschiedlich erhalten ist. Ob etwa die alten Schleusenwärterhäuschen entlang des Kanals zu " lost places" vergammeln oder im Gegenteil von begeisterten Besuchern regelrecht überrannt werden, das scheint - wie Nahrs Bildband eindrucksvoll lehrt - offenbar auch mit der jeweils zuständigen Denkmalschutzbehörde zusammenzuhängen. Vor allem aber, wie so oft, mit vorhandenen oder eben fehlenden Kümmerern.
Nahr, der mit "analoger Mittelformatkamera" auch die Schwarzweißfotos dieses Bandes beigesteuert hat, erzählt vom neuen Leben am Alten Kanal, nicht zuletzt von besagten Kümmerern. Etwa von Richard Schuller, dem "Kanal-Saubermann", der nahezu täglich (und aus reiner Lust am Dienst wider die Dummheit des Menschen) mit Tasche und Umweltzange die alten Treidelwege entlang radelt, den Wasserlauf von menschlichem Unrat säubernd, und dabei einmal beim Bergen von Plastikärgernis kopfüber ins Gewässer gestürzt ist. Oder von Hans Haderer, der mit wenigen Handgriffen und einer altertümlichen Kurbel eine der insgesamt 100 Schleusen des Kanals zu öffnen vermag. Oder vom Treidelexperten Hans Luber, der es ohnehin nicht so hat mit dem "schön Schauen", den Nahr aber in einem besondern unleidigen Moment erwischt hat. Normalerweise treidelt Luber die "Alma Viktoria", ein historisches Kanalschiff, samt etwa 50 Gästen mithilfe eines eingespannten Kaltbluthengstes den Kanal entlang. Als er in Nahrs Kamera schauen soll, ist das Kanalschiff aber seit vielen Monaten nicht mehr aus dem Hebewerk bewegt worden, Corona. Man glaubt es zu sehen.
Lesenswert ist auch die Geschichte von Helmut Beyer, einem Symbol dafür, welche Faszination dieser Alte Kanal immer noch ausübt - jedenfalls auf jene, die von seiner Existenz überhaupt wissen. Beyer hat das Schleusenwärterhaus 30 bei Sengenthal im Landkreis Neumarkt in ein Schmuckstück mit Außenbestuhlung verwandelt. Und wäre - auch das ist möglich an diesem grundsätzlich stillen Stück Land - um ein Haar Opfer seines eigenen Erfolgs geworden. Als das Fernsehen 2016 über sein "Cafe zur Ludwigslust" berichtete, wollten plötzlich nicht mehr nur Eingeweihte aus der Umgebung das selbstgemachte Gebäck am Kanal kosten. "Besuchermassen aus ganz Deutschland haben uns regelrecht überrannt", erzählt Beyer in dem Band. Fast geschlagen hätten die sich um die Plätze, 2019 sperrte Helmut Beyer und seine Frau Daijana, die Kuchenbäckerin, das Kanal-Kleinod vorübergehend zu. Wann's wieder öffnet? "Noch nicht abzusehen", antwortet Daijana Beyer, wenn man sie aktuell danach fragt. Sie werde es aber rechtzeitig bekanntgeben.