Migration und Krieg:Jedes Bett wird gebraucht

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Schlange stehen für Lebensmittel: Durch die Ankunft Geflüchteter aus der Ukraine sind die Tafeln wie hier in Nürnberg Ende März überlastet. (Foto: Nicolas Armer/dpa)

Innenminister Herrmann präsentiert die Asylbilanz 2021. Geflüchtete aus der Ukraine spielten da noch keine Rolle, nun sind sie es, die im Fokus stehen. Ihre Unterbringung sei gesichert - vorerst zumindest.

Von Johann Osel, Ingolstadt

Die staatliche Unterbringung von weiteren Flüchtlingen aus der Ukraine ist kurzfristig erst mal gesichert, man werde "in den nächsten zwei Wochen nicht vor der Situation stehen, dass wir sie nicht mehr unterbringen können". Das sagte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Donnerstag bei einem Besuch des Landesamts für Asyl und Rückführungen (LfAR) in Ingolstadt, wo er mit dessen Präsidenten Axel Ströhlein die Asylbilanz für das Jahr 2021 vorstellte. Dabei ging es im Schwerpunkt um Migration vor dem Ukraine-Krieg und vor dem aktuellen Zustrom - und doch hängt beides zusammen.

Von den mehr als 90 000 Menschen aus der Ukraine, die seit Beginn der russischen Invasion in Bayern angekommen sind (aber durchaus auch weiterreisten), sind bisher 66 000 registriert worden - 33 800 davon sind wiederum in Einrichtungen von Freistaat und Kommunen einquartiert. Ein großer Teil, so Herrmann, befinde sich also in privaten Räumen, "teils vermittelt, teils gezielt zu Freunden und Bekannten". Landsleute seien eine "Hauptanlaufstelle": Bereits vor dem Krieg waren in Bayern etwa 30 000 ukrainische Staatsbürger sozialversicherungspflichtig gemeldet, weitere 10 000 seien in den vergangenen 15 Jahren eingebürgert worden. Die "Anker"-Zentren und dezentralen Heime müsse man nun "wieder randvoll machen und jedes Bett nutzen". Zusammen mit den binnen Wochen kurzfristig geschaffenen neuen Kapazitäten in Kommunen wären, aktueller Stand, noch 22 000 Plätze frei, sagte Herrmann. Zugleich sei aber zu beachten, dass der hohe Anteil privater Unterbringung "sicher nicht ewig hält". Dennoch herrsche rein bei den Kapazitäten zunächst eine "gewisse Gelassenheit".

Leer waren staatliche Unterkünfte auch vor dem Ukraine-Krieg nicht - weil Migration mit Asylbegehren, wenn auch keineswegs in Dimensionen wie 2015 und 2016, auch vergangenes Jahr nicht abgerissen ist. Dies zeigt die vorgestellte Bilanz: 2021 ist die Zahl der Asyl-Erstanträge wieder auf knapp 21 000 gestiegen, nachdem sie im ersten Corona-Jahr wegen der Umstände auf 12 300 gefallen war. Zum Vergleich: 2016 gab es mit 82 000 die Höchstmarke. Hauptherkunftsländer waren 2021 Syrien (34 Prozent), Afghanistan (17) und Irak (zwölf). Insgesamt erließ das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ein Drittel Anerkennungen von Anträgen. "Knapp zwei Drittel haben folglich kein Bleiberecht", betonte Herrmann. "Wer keinen Schutzstatus erhält, muss unser Land wieder verlassen."

Abschiebungen seien wegen der Pandemie weiterhin erschwert. Vergangenes Jahr wurden 1913 Menschen zurückgeführt, die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern sei ein Schwerpunkt der Arbeit des LfAR. So seien 57 Prozent der 2020 und 2021 aus Bayern Abgeschobenen vorher polizeilich in Erscheinung getreten, 43 Prozent der 2021 Abgeschobenen sogar rechtskräftig verurteilte Straftäter. Außerdem gab es 2021 in Bayern mit 9768 etwas mehr freiwillige Ausreisen als im Vorjahr (7998). Durch Programme von Bund und Ländern wird etwa Starthilfe zum Aufbau einer Existenz im Herkunftsland gefördert. "Wir werden auch zukünftig die immer noch eingeschränkten Flugkapazitäten priorisiert für ausreisepflichtige Straftäter nutzen", kündigte LfAR-Chef Ströhlein an. Eine Task-Force koordiniere hier beschleunigte Abschiebungen, mit Fokus auf Intensiv- und Sexualstraftätern.

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Kapazitäten bei der Unterbringung werden auch weiterhin durch legal organisierte Kontingente genutzt. Von den sogenannten Ortskräften sowie durch die Taliban "besonders gefährdeten" Menschen aus Afghanistan, die in die Bundesrepublik geflogen werden, wurden Bayern bisher 2700 zugewiesen. Das ist noch nicht abgeschlossen. "Wir gehen derzeit von weiteren rund 2500 afghanischen Staatsangehörigen aus, die nach Bayern kommen werden und untergebracht werden müssen", sagte Herrmann. Insgesamt mit 6000 Zuwanderern über solche legalen Wege rechnet die Staatsregierung dieses Jahr. Dazu zählt etwa die humanitäre Aufnahme ausgewählter Schutzbedürftiger aus Camps, die über die Vereinten Nationen geregelt wird. Hinzu kommt illegale Migration - wie sich diese nach Beruhigung der Pandemie entwickelt, ist offen. Die Vorstellung der Asylbilanz und die Frage der Unterbringung wirkt alles in allem ein bisschen wie das große Rechnen - aber mit weitgehend unklaren Ziffern.

Insgesamt werde die Unterbringung von Asylbewerbern und von ukrainischen Kriegsflüchtlingen eine "große Herausforderung in diesem Jahr" sein, sagte Herrmann. Viele Ukrainer seien "im festen Bewusstsein, dass sie bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können". Sicher ist das nicht - daher warne er die Ampel im Bund, "gerade in der jetzigen Situation" durch Reformen die Lage "weiter zu verschärfen". Herrmann meint zum Beispiel das "Chancen-Aufenthaltsrecht", das SPD, Grüne und FDP laut Koalitionsvertrag planen. Anstelle von Ketten-Duldungen sollen Ausländer mit unsicherem Status, die schon seit fünf Jahren hier sind und nicht straffällig geworden sind, auf Probe eine einjährige Aufenthaltserlaubnis erhalten - und in dieser Zeit unter besseren Rahmenbedingungen Integrationsleistungen erbringen. Herrmann sieht darin die "Gefahr von zusätzlichen Anreizen für mehr illegale Zuwanderung".

Dem widersprach am Donnerstag Gülseren Demirel, Integrationsexpertin der Grünen im Landtag: "Alle Geflüchteten in Bayern sollten das Recht bekommen, sich im Freistaat zu integrieren", das Chancen-Aufenthaltsrecht sei da "genau der richtige Weg", teilte sie mit. "Staatsminister Herrmann sollte damit aufhören, Gruppen von Geflüchteten gegeneinander auszuspielen."

Vielerorts in Bayern sind alte und neue Flüchtlinge derzeit gemeinsam untergebracht. So auch in Ingolstadt, wo das Landesamt auf dem Gelände des Anker-Zentrums sitzt. Das Wort kommt von "Ankunft, Entscheidung, Rückführung", es trägt die Aussichtslosigkeit beim Bleiben schon im Namen. Der Fortbestand der sieben Zentren in Bayern sei von der neuen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zugesichert worden, sagte Herrmann, auch wenn sie den umstrittenen Namen nicht weiter beibehalten will.

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Die Großunterkunft in Ingolstadt ist "maximal belegt", man sieht beim Ortstermin von Weitem afrikanische Burschen im Hof herumschlendern, aber auch knapp 200 Ukrainer sind jetzt hier. Durch die EU-Zustrom-Richtlinie haben Letztere befristetes Aufenthaltsrecht; sie müssen kein Asylverfahren durchlaufen, haben aber gleichwohl Zugang zu Asylbewerberleistungen; sie dürfen sich frei in Europa bewegen, können ohne Hürden eine Arbeit aufnehmen. Gibt es Flüchtlinge erster und zweiter Klasse? Das sehe er nicht so, sagt der Innenminister auf Nachfrage dazu. Es seien unterschiedliche Rechtslagen durch die EU-Richtlinie, das sei klar "nachzuvollziehen" - auch wenn "der eine oder andere es sich anders wünschen" mag.

Übrigens, das zeigt die Asylbilanz auch: Die meisten Abschiebungen 2021 aus Bayern gingen ausgerechnet in die Ukraine (127 Fälle). Herrmann sagte: "Selbstverständlich gibt es aktuell keine Rückführungen in die Ukraine."

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