„In Kiew fühlt es sich an wie auf einem anderen Planeten“
Sie hatten ein ganz normales Leben, mitten im Europa des 21. Jahrhunderts. Sie lebten in Städten wie Odessa, Kiew und Charkiw. Niemand von ihnen hatte geplant, das Land zu verlassen. Bis der Krieg in der Ukraine begann – und sie beschlossen: Es ist zu gefährlich, sie müssen fliehen.
Die Süddeutsche Zeitung begleitet seit einigen Wochen drei Familien aus der Ukraine, die in München gelandet sind. Nach den ersten Wirren des Ankommens beginnen manche von ihnen nun, sich hier in ihrem neuen Leben zu etablieren, sie haben Jobs gefunden oder auch ein längerfristiges Quartier. Andere hat die Sehnsucht nach der Heimat nicht losgelassen – sie sind zurückgekehrt in die Ukraine.
Kapitel 3: Einleben - oder zurückkehren
Lilia Palekha, Lidia und Olga Kuzminova

Lilia Palekha lächelt. Sie lächelt vom Bildschirm des Mobiltelefons ihrer Schwester Olga Kuzminova in München. Denn Lilia ist zurück in Kiew, seit drei Tagen erst, es ist Mitte Mai. Nach mehr als zwei Monaten, die sie zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter in Deutschland verbracht hat, ist sie nach Hause in die ukrainische Hauptstadt gereist.
Aufgedreht läuft sie mit ihrem Handy durch ihre Wohnung im fünften Stock, zeigt die vielen Blumen in ihrem Apartment, den Ausblick auf pastellfarbene Häuser - und kurz ihren Mann Igor auf dem Sofa. Auch er sei glücklich, sie wieder bei sich zu haben, obwohl er wegen der fragilen Situation im Land zunächst strikt gegen ihre Rückkehr gewesen sei, erzählt Lilia Palekha auf Ukrainisch, ins Englische übersetzt von ihrer Schwester.
Olga Kuzminova sitzt derweil in München am großen Esstisch in der Firmenwohnung nahe der Theresienwiese, in der die drei Frauen nach ihrer Flucht untergekommen sind. Hier lebt sie jetzt allein. Denn auch ihre Mutter Lidia Kuzminova hat es nicht mehr ausgehalten fern der Heimat. „Sie machte Druck“, berichtet Olga Kuzminova. Daher hat sie die 79-Jährige Anfang Mai nach Hause in die Kleinstadt Wolochysk gebracht. Der Ort in der Westukraine ist vom Krieg vergleichsweise verschont geblieben.
„Die Spannung ist sofort spürbar, wenn man über die Grenze fährt“
Olga Kuzminova nutzte die Reise für eine eintägige Stippvisite in Kiew. Die Hinfahrt sei weitgehend unproblematisch gewesen, berichtet sie. Erst auf der Rückreise habe sie stundenlang im Zug ausharren müssen, da ihre Strecke zuvor bombardiert worden war. Das Leben in der Ukraine ist von Normalität weit entfernt. Man merke, dass man sich in einem Kriegsgebiet befinde, sagt Olga Kuzminova. „Die Spannung ist sofort spürbar, wenn man über die Grenze fährt.“ In Kiew habe es sich angefühlt „wie auf einem anderen Planeten“. Die Stadt sei halb leer.
In der Nacht sei es absolut still – von 23 Uhr bis in die frühen Morgenstunden herrsche Ausgangssperre.
„Es ist eine andere Ukraine jetzt, auch wenn die Gefahr in Kiew nicht so akut ist“, bekräftigt Lilia Palekha via Mobiltelefon. Alle Straßenschilder, die den Weg wiesen, seien entfernt worden. Es gebe keine Veranstaltungen oder öffentliche Feiern, Bars hätten geschlossen. Geschäfte und Märkte hätten kürzere Öffnungszeiten, andere seien ganz geschlossen. In München sei es so ruhig und sicher gewesen, betont Lilia Palekha. Sie habe keine Worte dafür, wie gut es gewesen sei, in den ersten Kriegswochen dort zu sein. In Kiew sei sie nun immer ein bisschen beunruhigt.
Als beängstigend beschreiben beide Schwestern vor allem den gelegentlichen Bombenalarm. Wenn die Sirenen heulten, hätten sie sich sofort in Sicherheit begeben – im Gegensatz zu vielen anderen Kiewern, die kaum mehr darauf reagierten.
Lilia Palekha versucht, sich in dieser „neuen Realität“ einzufinden. In ihrem Beruf als Logistik-Managerin arbeitet sie nun wieder von Kiew aus. Lidia Kuzminova hat in Wolochysk wieder ihr übliches Leben aufgenommen.
Olga Kuzminova wird hingegen dauerhaft in München bleiben. Im Moment fühlt es sich für sie ohne ihre Mutter und Schwester zwar „ein bisschen einsam“ an.
Doch die 44-Jährige hat hier einen Job in ihrem Beruf als IT-Projektmanagerin gefunden – im Juni geht es los, wenn denn endlich alle Formalitäten geklärt sind. Nun sucht sie nur noch nach einer Wohnung.
Tetiana Romanovska und Elie Hazeem

Irgendwann kam der Moment, vor dem sich Tetiana Romanovska und Elie Hazeem gefürchtet hatten. Das Ehepaar aus Odessa war bei einer Münchner Familie untergekommen. Die unterstützte die beiden, organisierte ihnen einen Deutschkurs, half bei der Bürokratie. Doch ein Leben im Gästezimmer ist keine Dauerlösung. Vom ersten Monat an hatte das Ehepaar sich deshalb nach Alternativen umgeschaut. Erfolgslos. Im April kommt die deutsche Familie auf das Paar zu – und bittet es, in den nächsten Wochen auszuziehen.
„Sie haben uns nicht rausgeschmissen“, stellt Romanovska klar. Die beiden können den Wunsch ihrer Gastgeber gut nachvollziehen. Gäste im Haus können anstrengend sein, das kenne doch jeder zu gut. „Wenn meine Mutter zu Besuch ist, ist mein Mann schon nach ungefähr einer Woche genervt“, scherzt die 31-Jährige.
Doch eine Wohnung in München zu finden, ist alles andere als einfach. Die meisten Vermieter suchen Menschen mit sicherem Einkommen, gefestigten Lebensverhältnissen. All das können Tetiana Romanovska und Elie Hazeem im Moment kaum bieten. Mit dem Krieg habe sich alles sehr plötzlich verändert, sagt Romanovska: „Du bist ohne festen Job, du hast keine Unterkunft mehr. Du hast nur noch die Kleidung, die in eine Tasche gepasst hat.“
Tetiana Romanovska geht davon aus, dass sie mindestens ein Jahr in Deutschland leben werden
Hinzu kommt: Niemand weiß, bis wann die beiden in Deutschland bleiben werden. Wie lange wird der Krieg noch dauern – und ist man danach in Odessa wirklich sicher? Tetiana Romanovska geht davon aus, dass sie noch mindestens ein Jahr in Deutschland leben werden, vielleicht sogar länger. Planen, das ist immer noch schwierig.
Tetiana Romanovska und Elie Hazeem hatten aber Glück. Eine Freundin aus Odessa, die mit ihren Kindern ebenfalls nach München geflohen ist, bekommt ein Angebot für eine Unterkunft: ein altes Haus in Garching, das leer steht und in einigen Monaten abgerissen werden soll. Für die Zwischenzeit wollen die Eigentümer das Haus ukrainischen Geflüchteten anbieten – ohne Geld dafür zu verlangen. „Der Ort ist wirklich schön, wunderbar und grün“, schwärmt Tetiana Romanovska. „Manche Räume sehen wie ein Museum aus.“ Es gebe sogar ein altes Klavier. „Du fühlst, dass dort Menschen gelebt haben. Sie waren da glücklich, haben da geweint.“ Ein Haus mit Charakter. Der Nachteil: In einigen Monaten, wenn auf dem Grundstück etwas Neues gebaut wird, muss sich das Ehepaar wieder eine andere Unterkunft suchen.

Elie Hazeem befürchtet, dass das schwierig werden könnte. Er hat Angst, es könne seine Frau belasten, dass er Syrer ist. Er habe gesagt, „findet eine Unterkunft nur für sie. Ich gehe zurück in die Ukraine“, erzählt Hazeem. „Als ob ich dich gehen lassen würde“, sagt sie vorwurfsvoll. Ihr Mann aber ist zunehmend verzweifelt. „Wir machen nur sehr kleine Fortschritte“, findet er. „Wir haben viele Jahre investiert, um einen Universitätsabschluss zu bekommen. Und danach haben wir viel Zeit, viel Aufwand und viel Geld aufgewendet, um zusätzliche Zertifikate von renommierten Universitäten zu bekommen“, sagt er. „Und dann? Nimm alles und wirf es weg!“.
Nüchtern betrachtet geht es im Leben der beiden aber durchaus voran. Sie arbeiten nun an der Münchner Volkshochschule als Lehrer für Englisch beziehungsweise Spanisch. Der Beruf, für den sie studiert und den sie auch schon in der Ukraine ausgeübt haben. Aber es gibt wieder einen Haken: Sie arbeiten als Freiberufler, ihre Tätigkeit ist also ziemlich unsicher. Und bislang konnten sie noch nicht genug Kurse bekommen, um in Vollzeit beschäftigt zu sein. Ihr Traum wäre: „Weiter zu unterrichten, aber ein mehr oder weniger stabiles Einkommen zu haben“, sagt Tetiana Romanovska.
Yuliia und Maksym Zadyraka

Der Unterricht bei Yuliia Zadyraka beginnt mit einem Lied. „Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, Sonnenschein“, schallt es durch die Lautsprecher im Klassenzimmer. „Diese Nacht blieb dir verborgen, doch du darfst nicht traurig sein.“
Nach einiger Zeit stoppt Yuliia Zadyraka die Musik. Doch die Heiterkeit, die das Lied mit sich bringt, bleibt im Klassenzimmer zurück. Und dabei hätten viele in diesem Raum mehr als genug Grund zu Traurigkeit und Sorge.
Da gibt es Dinge , die schon richtig gut funktionieren. Dazu zählt der Unterricht in der Willkommensklasse. Trotz der Altersunterschiede: „Sie sind freundlich, nett, sie kommunizieren miteinander“, sagt sie über ihre Schülerinnen und Schüler.
An diesem Tag kommt ein neuer Junge in der Schule an, Yuliia Zadyraka nimmt ihn herzlich auf. Wo er herkomme, fragt sie ihn. Aus Odessa, sagt er. Da gibt es doch noch mehr in dieser Klasse?, fragt Yuliia Zadyraka. Drei andere Kinder melden sich.
„Dieses Thema ist sehr wichtig für uns“, sagt sie – denn viele ukrainische Familien suchen gerade eine dauerhafte Unterkunft.
„Das ist ein Glücksfall für eine Schule“, sagt Rektorin Elsbeth Zeitler über Yuliia Zadyraka. Sie hat die Ukrainerin im März zufällig bei einer Veranstaltung kennengelernt – und dabei erfahren, dass Zadyraka Deutsch, Englisch und Literatur studiert hat. „Die hat sogar in der Ukraine dieselben Schulbücher verwendet, die wir auch in „Deutsch als Zweitsprache“ verwenden“, erzählt Elsbeth Zeitler. „Ich habe also gleich gesagt: Ich würde mich bemühen, dass sie bei uns eine Stelle kriegt.“
Den Vertrag hat Yuliia Zadyraka innerhalb weniger Wochen bekommen, er ist schon unterschrieben. Bislang arbeitet sie aber noch auf ehrenamtlicher Basis. Denn ihr fehlen noch Papiere, auf die sie seit Wochen wartet. „Ich finde das unmöglich, dass sowas ehrenamtlich gehen muss“, sagt die Rektorin. Sie hat nun einen Kollegen gebeten, ihrer neuen Lehrerin bei den Problemen mit der Bürokratie zu helfen. Yuliia Zadyraka selbst belastet die Situation: Sie hat große Angst, dass irgendetwas schiefgehen könnte und sie Deutschland wieder verlassen muss.
Teils hört sie tagelang nichts von ihrer Mutter und ihrem Vater
Zugleich sorgt sie sich um ihre Familie in der Ukraine. Ihre Eltern leben in einer der Regionen, die von Russland besetzt sind, erzählt sie. Teils hört sie tagelang nichts von ihnen. Ihr Mann ist nach Lwiw im Westen der Ukraine geflohen, findet dort aber keine Arbeit. „Er vermisst uns und sagt immer, dass er nach Charkiw zurückkehren will“, erzählt Yuliia Zadyraka. Das sei aber zu gefährlich – auch wenn sie seine Sehnsucht verstehe: „Manchmal habe ich schon auch riesiges Heimweh.“
Aber Yuliia Zadyraka bleibt, trotz der bürokratischen und auch emotionalen Schwierigkeiten. Sie macht das auch für ihren Sohn. In Charkiw sei viel zerstört, Häuser, Kindergärten und Schulen, erklärt sie. Keine gute Umgebung für ein Kind.
Kapitel 2: Ankunft in der Fremde
Tetiana Romanovska und Elie Hazeem

Tetiana Romanovska hebt die Hand, Nita Wolf beugt sich zu ihr hinunter. „Deine Frage ist zu schnell für die anderen“, sagt sie leise auf Englisch. Später, die restlichen Schülerinnen und Schüler sind beschäftigt, kommt sie zurück und sagt: „Jetzt kannst du fragen.“ Mehrere Seiten hat Tetiana Romanovska in ihrem Deutschbuch schon vorgearbeitet. „Ich will schneller als der Rest sein, ich brauche es schneller“, sagt die Ukrainerin.
Sie hat Sprachen studiert, Englisch und Spanisch unterrichtet. Auch ihr Mann Elie Hazeem ist Englischlehrer. „Die gehen los wie die Raketen“, sagt die Deutschlehrerin Wolf über das Ehepaar. „Da muss ich sie manchmal ausbremsen.“

Erst seit wenigen Wochen wohnen Tetiana Romanovska und Elie Hazeem in München, sie sind vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. Nun besuchen sie einen Deutschkurs der Volkshochschule. Die Sprache zu lernen ist für sie der Weg zurück zu ihrer Unabhängigkeit. „Manchmal fühle ich mich blind und taub“, sagt Tetiana Romanovska. Es stört sie, dass sie die Menschen um sich herum nicht verstehen kann, im Alltag immer wieder auf Barrieren stößt – zum Beispiel, wenn die Kellnerin im Café kein Englisch spricht.
Doch der Deutschkurs ist auch ein Teil ihrer Pläne für den Fall, dass der Krieg in der Ukraine noch länger dauert. „Wir wollen unabhängig sein“, sagt Tetiana Romanovska. „Ich möchte mich nicht auf die Hilfe der Regierung verlassen. Weil ich in der Lage bin zu arbeiten, einen guten Beruf habe und all die Fähigkeiten.“ Ihr Mann Elie Hazeem ergänzt: „Das ist der Grund, warum wir Deutsch so sehr vorantreiben.“
Später sitzen sie Rücken an Rücken und ahmen mit höchster Ernsthaftigkeit ein Telefongespräch nach, in dem eine Nummer diktiert werden muss.
„Deutsch hat jetzt Priorität“, sagt Tetiana Romanovska. Deshalb hat sie auch einen Online-Kurs als Sprachlehrerin abgesagt, der sich zeitlich mit den Deutschstunden überschnitten hätte – obwohl ihr sowieso kaum mehr Aufträge geblieben sind. „Es sind nur noch 20 bis 30 Prozent meines früheren Einkommens übrig“, sagt sie. Auch ihr Mann hat Aufträge verloren.
In der Ukraine zählten die beiden, wie sie selbst sagen, zu den Besserverdienenden. Einen Teil ihrer Ersparnisse haben sie als Bargeld nach Deutschland gebracht, können es allerdings nicht tauschen – deutsche Banken nehmen die ukrainische Währung nicht an. Ihre Not vergrößert sich, weil sie beide ihre Eltern versorgen müssen: Sowohl Elie Hazeems Eltern in Syrien, als auch Tetiana Romanovskas Mutter, die inzwischen in die Slowakei geflohen ist, sind von ihren Zuwendungen abhängig.
Sie wollen ihr unabhängiges Leben zurück: ein eigener Job, eine eigene Wohnung
Ihre Gespräche kreisen deshalb immer wieder um die Frage: Wie können sie in Deutschland einen Job finden? „Wir wollen Lehrer sein“, sagt Tetiana Romanovska. „Für mich muss es nicht unbedingt Unterrichten sein – zumindest nicht für jetzt“, widerspricht Elie Hazeem. „Wir sind nicht in einer Position, die uns erlauben würde zu sagen: ,Ja, das ist gut‘, ‚Nein, das ist schlecht‘.“
Deswegen hat er Bewerbungen in ganz Deutschland verschickt, seine Frau ist darüber unglücklich. „Ich habe gesagt: Elie, lass uns uns auf München konzentrieren“, sagt sie. Hier sind sie registriert, hier haben sie ihren Sprachkurs, die Unterstützung des Paares, bei dem sie untergebracht sind. „Stell dir vor, zum Beispiel“, setzt Elie Hazeem an, „ich bekomme 1000 Euro in Essen...“. „Das heißt ,to eat’, die Stadt heißt ,to eat’!“, unterbricht ihn seine Frau und lacht. Aber welche Möglichkeiten hätten sie schon?, entgegnet ihr Mann. „Elie, du bist zu hartnäckig“, sagt Tetiana Romanovska.
Ganz grundsätzlich sind sie sich aber einig: Sie wollen ihr unabhängiges Leben zurück – und dazu gehören ein eigener Job und eine eigene Wohnung. „Ich habe das Gefühl, dass ich leider nicht so schnell zurückkehren kann, wie ich erwartet hätte“, sagt Tetiana Romanovska.
Am Anfang habe sie gedacht, es gehe vielleicht um einen Monat. Jetzt muss sie eben hier in Deutschland Pläne entwickeln.
Lilia Palekha, Lidia und Olga Kuzminova

Jeden Tag steigt Lidia Kuzminova fünf Stockwerke hinab und dann wieder hinauf, mindestens einmal, manchmal auch zweimal, für ein Minimum an Bewegung. Eine Hand am Geländer, in der anderen einen Stock geht die kleine, sehr schlanke 79-Jährige recht zügig durch das hohe Treppenhaus des Altbaus, in dem sie mit ihren beiden Töchtern in einer Dachgeschosswohnung untergekommen ist.
Meist führt sie ihr Weg aber weiter, hinaus in die nähere Umgebung, oft zur nahegelegenen Theresienwiese.

Dort sitzt Lidia Kuzminova nun mit der 44-jährigen Olga Kuzminova und der 49-jährigen Lilia Palekha auf einer fest installierten Sitzgruppe. Es ist genau fünf Wochen nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar und der überstürzten Flucht der drei Frauen vor dem Krieg. Fünf Wochen, nachdem die beiden Töchter, die aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew kamen, ihre Mutter überredeten, die Kleinstadt Wolotschysk zu verlassen und nach Deutschland zu fliehen.
In dem Städtchen in der Westukraine hat Lidia Kuzminova ihr ganzes Leben lang gelebt. Sie war nie im Ausland, außer in Russland, als beide Länder noch Teil der Sowjetunion waren. Jetzt ist sie plötzlich in Deutschland, in München. Wie sich das für sie anfühlt?
Lidia Kuzminova antwortet lebhaft und so viel, dass ihre Tochter Olga, die als einzige der drei Frauen Englisch spricht und als Übersetzerin fungiert, kaum hinterherkommt: München gefalle ihr sehr. Es sei eine sehr saubere Stadt, und die Autofahrer hielten sich an die Regeln – ganz im Gegensatz zur Ukraine. Doch besonders bemerkenswert sei vor allem eines: „Ich bin beeindruckt davon, wie freundlich die Menschen sind.“
Wenn sie auf der Straße jemanden nach etwas frage, begegneten ihr alle immer offen und hilfsbereit, trotz der Sprachbarriere, berichtet die 79-Jährige. Sie sei froh, jetzt hier zu sein.
Doch sie haben keine Antwort. Im Moment seien sie einerseits erleichtert durch den Rückzug der russischen Truppen aus der Region um Kiew. Es gebe dort keine Bombardierungen mehr, wenn auch – wie in Wolotschysk – immer wieder die Sirenen heulten.
Andererseits zeigten die Kriegsverbrechen der russischen Armee in Butscha und an anderen Orten, wie brutal und unberechenbar Präsident Putin und seine Truppen seien, sagt Olga Kuzminova. „Wir wissen nicht, was diese Menschen in ein paar Monaten, nächstes Jahr, in ein paar Jahren tun werden.“
Für sie und ihre Familie stehe derzeit nur eines fest: „Wir werden nicht vor dem 9. Mai zurückkehren.“ An diesem Tag wird in Moskau traditionell mit viel Pomp der Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gefeiert. Wie die ukrainische Regierung und auch westliche Beobachter befürchtet die Familie, dass Putin die Angriffe davor noch einmal massiv verstärken könnte, um am 9. Mai einen militärischen Erfolg zu verkünden.
Die größte Sorge der drei Frauen gilt ihren Angehörigen und Freunden in der Ukraine
Und so stellt sich für Olga Kuzminova und ihre Schwester immer wieder die Frage, wie es nun weitergeht. Kehren sie bald zurück – oder sollten sie sich auf eine lange Zeit in Deutschland einstellen? Die notwendigen Formalitäten haben sie bereits erledigt, ihren Wohnsitz angemeldet, eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Doch sollen sie sich hier Jobs suchen?
Im Moment arbeiten beide noch von München aus für ihre Firmen in Kiew in der IT- beziehungsweise Logistikbranche. Lilia Palekha, die, wie übrigens auch ihre Mutter Lidia, früher Lehrerin war, hat sich zudem auf einer Website registriert, auf der Lehrer für geflüchtete Kinder aus der Ukraine gesucht werden. Da die Fragen auf Deutsch waren, sei sie sich allerdings nicht sicher, ob sie alles richtig ausgefüllt habe, sagt sie.
Die weitaus größte Sorge der drei Frauen gilt weiterhin ihren Angehörigen und Freunden in der Ukraine. „Im Gegensatz zu ihnen sind wir in Sicherheit und müssen nicht unentwegt diese Gefahr, diese Furcht erleben“, sagt Olga Kuzminova.
Yuliia und Maksym Zadyraka

Bälle in allen Größen und Farben kullern über den Boden, dazwischen Spielsteine, ein Bobbycar und Hüpfpferde. Laute Kinderstimmen hallen durch den Raum – es wird gelacht, gestritten, gekreischt.
Auf den Tischen liegen Papier und Buntstifte, daneben hat jemand ein paar Kekse gelegt. Rund herum stehen die Eltern, viele mit einer Tasse Kaffee in der Hand.
Noch keine zwei Monate sind vergangen, seit sie mit ihrem vierjährigen Sohn ihre Heimatstadt Charkiw verlassen hat. Die russische Armee hatte ihr Viertel heftig mit Raketen beschossen, eine war sogar in ihrem Häuserblock eingeschlagen, berichtet sie. Nun lebt die 33-Jährige im Münchner Westen: Züleyha Yilmaz, die Leiterin des Neuaubinger Jugendtreffs, hat die Familie in ihrer Wohnung aufgenommen. „Wir reden zu viel, wir lachen zu viel, weinen auch zu viel. Alles zusammen“, beschreibt Yuliia Zadyraka ihr Zusammenleben.
Sie fühle sich bei Züleyha Yilmaz zuhause, aber es sei nicht einfach. Schließlich gebe es auch noch eine andere Realität, die in ihrer Heimat. Ihr Mann, ihre Eltern: Sie sind immer noch in der Ukraine, immer noch in Gefahr.
Yuliia Zadyrakas Strategie, um mit dieser schwierigen Situation umzugehen: Sie wird aktiv, engagiert sich, hilft anderen Menschen – zum Beispiel, indem sie die Mutter-Kind-Treffen plant. Jedes Mal wird zusammen gekocht oder gebacken, an diesem Sonntag gibt es Pizza.

Auch eine ukrainische Psychologin ist da, sie schaut vor allem auf die Kinder. Beim Organisieren hilft Yuliia Zadyraka die Tatsache, dass sie gut deutsch spricht und sich in München auskennt: Vor einigen Jahren hat sie ein Freiwilliges Soziales Jahr im Jugendtreff Neuaubing gemacht.
Viele der anderen Geflüchteten, die an diesem Sonntag zu dem Treffen kommen, haben dagegen kein Netzwerk in München, sprechen kaum Englisch oder Deutsch. „Es ist sehr schwierig, wenn keiner deine Sprache spricht“, sagt zum Beispiel Olena Antsyforova, die allein mit ihrer kleinen Tochter geflohen ist. Umso wichtiger ist es für sie, sich nun mit anderen Frauen aus der Ukraine auszutauschen. „Sicherheit“ gebe ihr das Treffen, tippt Alexandra Fironova in den Übersetzer auf ihrem Smartphone. Unterdessen piekst ihre Tochter mit einer Gabel viele kleine Löcher in den Pizzateig.
Ihr vierjähriger Sohn muss den Krieg und die Flucht erst noch verarbeiten
„Ich fühle, dass sie mich brauchen“, sagt Yuliia Zadyraka. Die Information, dass es jeden Sonntag ein Treffen in Neuaubing gibt, verbreitet sich immer weiter. „Es ist wie ein Radio“, sagt die Ukrainerin. Der Gedanke, dass sie etwas Sinnvolles tun kann, gebraucht wird, hilft ihr. Sie hilft auch an einer Schule aus, unterrichtet dort geflüchtete Kinder in Deutsch. Außerdem passt sie auf die kleineren Kinder auf, während ihre Mütter Deutschkurse haben.
Züleyha Yilma sorgt sich, dass Yuliia Zadyraka ihr Engagement zu viel werden könnte. Sie sehe, dass sie kaum Zeit für sich selbst habe. Zadyrakas sieht ihre Familie – die Frau ihres Cousins, deren Mutter und Baby, mit denen sie gemeinsam nach Deutschland gekommen ist – bei all dem Stress häufig nur noch einmal pro Woche: beim Mutter-Kind-Treffen in Neuaubing. Dort ziehen sich die beiden Frauen an diesem Sonntag allerdings eher zurück, mit dem Säugling sehnen sie sich nach Ruhe.

Ruhe wünscht sich auch Yuliia Zadyraka selbst manchmal: „Es gibt nicht so leicht Zeit für mich“, sagt sie. Dabei denkt sie vor allem an ihren vierjährigen Sohn Maksym, der Krieg und Flucht noch verarbeiten muss: „Ich brauche auch Zeit für mein Kind.“ Dennoch: Die Kleinsten scheinen das Treffen im Jugendtreff Neuaubing am meisten zu genießen.
Sie verstecken sich im Zelt, malen bunte Bilder, rasen mit dem Bobbycar durch die Räume. Und können endlich wieder mit Gleichaltrigen spielen, die ihre Sprache sprechen.
Kapitel 1: Flucht vor dem Krieg
Tetiana Romanovska und Elie Hazeem

Bevor der Krieg begann – vielleicht zwei Wochen vorher – ahnte Elie Hazeem bereits etwas. „Weil er Syrer ist und weiß, wie Krieg ist“, sagt seine Frau Tetiana Romanovska. Das Ehepaar lebt da schon seit einigen Jahren gemeinsam in der ukrainischen Hafenstadt Odessa, sie arbeiten als Lehrer. „Ich war mir sicher, dass etwas passieren würde“, sagt Elie Hazeem. Der 33-Jährige will mit seiner Frau die Stadt verlassen, sich für einige Zeit eine Wohnung im Westen der Ukraine mieten. Dort, wo die russische Grenze weit weg ist. Elie Hazeem bittet und drängt - doch Tetiana Romanovska will unter keinen Umständen weg.
Nun, etwa einen Monat später, sitzen die beiden in einem Café im Münchner Norden.
Ihr Mann ist sich sicher: „Es wird ein paar Monate dauern, und dann wirfst du es von allein weg.“ Seit acht Jahren war er nicht mehr in Syrien bei seiner Familie. Seine Heimat hat er wegen des Krieges, aber auch wegen Tetiana verlassen. Die beiden hatten sich im Internet ineinander verliebt und nach nur zwei Wochen in der Ukraine geheiratet. Der Abschied von der Heimat fiel auch Elie Hazeem anfangs nicht leicht. „Aber dann, mit den Jahren, begann das Leben immer besser zu werden“, sagt er.
Bis Tetiana Romanovska am Morgen des 24. Februar 2022 von einem lauten Geräusch geweckt wird, wie sie erzählt. Ein Autounfall, denkt sie erst. Doch es folgt eine zweite Explosion – von der auch Elie Hazeem aufwacht. Der Krieg hat begonnen. „Seine ersten Worte waren: Ich habe es dir gesagt! Wir müssen wegziehen!“, erzählt sie.
Elie Hazeem drängt immer verzweifelter
Doch Tetiana Romanovska möchte bleiben, trotz allem. Die beiden schlafen im Flur ihrer Wohnung, weit weg von Fensterscheiben. Um sie herum stapeln sich jetzt gepackte Taschen, damit sie im Notfall schnell fliehen können. Über ihre Köpfe legen sie ein Kreuz. „Weil wir daran glauben, dass es uns beschützt“, sagt Tetiana Romanovska.
Doch dann wird eine Stadt ganz in ihrer Nähe bombardiert, berichten sie. Elie Hazeem drängt immer verzweifelter: „Lass uns irgendwohin umziehen, ich fühle mich nicht sicher.“ Schließlich ruft Tetiana Romanovska einen früheren Mitschüler an, von dem sie weiß, dass er sich für Geflüchtete engagiert. Er überzeugt die 31-Jährige, zusammen mit Elie Hazeem in einen der Evakuierungszüge zu steigen.
Die beiden fahren an die slowakische Grenze. Dann meldet sich der ehemalige Mitschüler erneut: Der Münchner Stadtrat Felix Sproll – ein Bekannter von ihm – sei gerade in Polen, um Hilfsgüter zu liefern. Er könne das Paar auf der Rückfahrt abholen und ihnen eine Unterkunft in München organisieren. Tetiana Romanovska sagt zu.
Das Paar passiert zusammen die Grenze – Elie Hazeem darf anders als die meisten Männer das Land verlassen, weil er keine ukrainische Staatsangehörigkeit hat. Tetiana Romanovska ist nun das erste Mal im Ausland. „Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich die Grenze zu Fuß überquere, mit einem Koffer, und quasi ins Nichts gehe“, sagt sie.
Aber Tetiana Romanovskas Gedanken sind ständig in der Ukraine, alle paar Minuten blickt sie auf ihr Handy. Elie Hazeem versucht, mit der Situation positiv umzugehen: „Ich gebe mein Bestes, um den Moment zu genießen“, sagt er. „Weil ich nicht weiß, was morgen passieren wird.“ In Syrien hätten sie ein gutes Leben gehabt, dann hätten sie alles hinter sich lassen und in ein anderes Land fliehen müssen. In der Ukraine sei nun dasselbe passiert.
Tetiana Romanovska und Elie Hazeem, sie hatten Pläne. Im Sommer wollten sie endlich nach Syrien reisen – und eine Kinderwunschbehandlung beginnen. „Wir haben darauf hingeplant“, sagt Tetiana Romanovska. „Und jetzt? Ich kann nicht mal für eine Woche planen.“ Die Zukunft der beiden ist ungewiss.
Lilia Palekha, Lidia und Olga Kuzminova

Als Olga Kuzminova am frühen Morgen des 24. Februar in ihrer Wohnung in Kiew aufwacht, merkt sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie hört Geräusche, aus weiter Ferne. Sie klingen beängstigend. Die 44-Jährige springt aus dem Bett. In den Nachrichten erfährt sie, was passiert: Russland greift die Ukraine an, auch die Hauptstadt steht unter Beschuss. Kuzminova reagiert schnell. Sie packt das Allernotwendigste zusammen: Papiere, Geld, ihr Notebook, ein paar persönliche Sachen. Und macht sich auf zu ihrer älteren Schwester, die ebenfalls in Kiew wohnt. So beginnt ihre Flucht vor dem Krieg.
Fast einen Monat später steht Olga Kuzminova angelehnt an eine Küchenzeile in einer hellen Wohnung vor einer großen Kaffeetafel. In dem Appartement einer Kanzlei nahe der Theresienwiese ist sie mit ihrer Schwester Lilia Palekha und ihrer Mutter Lidia Kuzminova vor etwas mehr als einer Woche untergekommen. Eine ganze Reihe weiterer Menschen haben sich um den Tisch versammelt: Katharina, Lilias erwachsene Tochter, die schon seit zwei Jahren in München lebt, mit ihrem Mann; und Margarete Arlamowski, die sich bei den Münchner Freiwilligen engagiert und der Familie in München ein erstes Obdach gegeben hatte, mit ihrer Familie. Es gibt Käsekuchen, Kaffee und Tee.

Lilia Palekha zeigt ein Foto ihres Mannes Igor. Es wirkt wie ein Familientreffen, freundlich, lebhaft. Wären da nicht die bedrückenden Umstände, die zu dieser Zusammenkunft geführt haben.
„Es ist schwer zu begreifen, dass das Realität ist“, sagt Olga Kuzminova. Fast zwei Stunden lang wird sie in fließendem Englisch von ihrer Flucht berichten, gelegentlich auf Ukrainisch assistiert von ihrer 49-jährigen Schwester. Sie erzählt, wie sie diese überzeugt, dass sie Kiew sofort erlassen müssen. Wie Lilias Mann sie im Auto in den kleinen Ort ihrer Mutter fährt, der auf halber Strecke zwischen Kiew und der westlichen Grenze liegt – und wie sie dabei wegen des enormen Verkehrs nur quälend langsam vorankommen mit etwa fünf Kilometern pro Stunde.
Die Schwestern erleben eine Stadt, ein Land in Aufruhr. „Menschen flohen aus Kiew, andere in die Stadt hinein, viele Richtung Westen. Keiner wusste, was zu tun war“, beschreibt Olga Kuzminova. Auch die beiden Frauen selbst ändern noch auf der Fahrt ihren Plan. Wollten sie ursprünglich bei ihrer Mutter bleiben, so erscheint ihnen mittlerweile auch das zu unsicher. Sie beschließen, mit der 79-Jährigen nach München zu flüchten, zu Lilia Palekhas Tochter. Lilias Mann fährt hingegen mit dem Auto zurück nach Kiew, er hat noch seinen Vater und Schwestern dort.
Zwei Ungarn fahren sie mit dem Auto, einfach so
Die drei Frauen reisen über die ungarische Grenze nach Budapest und von dort mit dem Zug nach München. Vieles ist unsicher und löst sich doch im letzten Moment. Wie kommen sie nah an die Grenze, damit ihre Mutter nicht weit gehen muss? Ein Taxifahrer kennt den Weg. Wie von der Grenze nach Budapest? Zwei Ungarn fahren sie mit dem Auto dorthin, einfach so.
Und wo bloß sollen sie zu dritt unterkommen in München? Die Wohnung von Lilia Palekhas Tochter ist zu klein. Sie melden sich auf einer Website an, die Unterkünfte an Geflüchtete vermittelt. In weniger als 20 Minuten meldet sich Margarete Arlamowski. „We were lucky“ - wir hatten Glück, betont Olga Kuzminova – es ist ein Satz, der sehr häufig vorkommt in ihrer Geschichte.

Vier Tage nach ihrem überstürzten Aufbruch aus Kiew kommen die drei Ukrainerinnen in München an. In Margarete Arlamowskis Wohnung in der Maxvorstadt ist das Kinderzimmer für sie vorbereitet, deren Tochter hat Willkommensbotschaften in ukrainischer Sprache verfasst. „In ein Land kommen Menschen, um andere zu töten, ganz ohne Grund, und in anderen Ländern gibt es einfach normale Menschen, die sich kümmern, die helfen – wir waren überwältigt von diesem Unterschied“, sagt Kuzminova. „Vom ersten Moment an fühlte es sich so an, als hätten wir hier unsere neue Familie gefunden.“
Die zwei Schwestern arbeiten aus der Ferne noch für ihre Firmen in der Ukraine, zumindest ein wenig – Olga Kuzminova als Projektmanagerin, Lilia Palekha als Logistikmanagerin. Sie haben mit einem privat organisierten Online-Deutschkurs begonnen. Kuzminova versucht zudem, hier einen Job zu finden.
Doch die Sorge um Verwandte und Freunde in der Ukraine lässt sie nicht los: um Lilia Palekhas Mann in Kiew und um ihren Bruder, der als Reservist in Bereitschaft steht. Jeden Morgen nehmen sie zu ihnen Kontakt auf. Und jeden Tag hoffen die Frauen, dass der Krieg bald zu Ende geht. „Wir alle wollen wieder nach Hause“, sagt Olga Kuzminova. „Davon träumen wir jeden Tag.“
Yuliia und Maksym Zadyraka

Zurückzukehren, das liegt für Yuliia Zadyraka in weiter Ferne. „Ich habe kein Zuhause mehr“, sagt die Ukrainerin. Natürlich würde sie gern wieder in die Heimat. „Aber wenn ich diese Fotos und Videos sehe, dann verstehe ich: Es ist unmöglich. Alle Brücken sind zerstört, alle Straßen.“ Yuliia Zadyraka ist mit ihrem vierjährigen Sohn Maksym vor dem Krieg in ihrer Heimatstadt Charkiw nach München geflohen.
Beinahe alles musste sie in der Ukraine zurücklassen: ihre Familie – ihren Mann, ihre Schwester, ihre Eltern. Auch ihre persönlichen Sachen, Kleidung und Dokumente. Ihre Pflanzen. Die sind jetzt wohl vertrocknet. „Aber das ist natürlich nicht wichtig“, schiebt sie schnell hinterher.
Nun sitzt sie im Jugendtreff in Neuaubing. Pflanzen gibt es hier auch – nur, dass die im Wasser ertränkt sind. Züleyha Yilmaz, die Leiterin des Jugendtreffs, holt gerade ein tropfendes Exemplar aus dem Topf. „Yuliia, die Pflanze – oh mein Gott!“, ruft sie. Yuliia Zadyraka erklärt dann: Sie sei immer diejenige, die auf die Pflanzen aufpasse. Eine hervorragende Köchin ist sie auch, sagt Züleyha Yilmaz. Außerdem liebten die Kinder sie. Die Leiterin des Jugendtreffs weiß das, weil sie Yuliia Zadyraka gut kennt. Vor einigen Jahren hat die 32-Jährige ein Freiwilliges Soziales Jahr im Neuaubinger Jugendtreff gemacht.
Sie blieben in Kontakt, über all die Jahre hinweg
Die Ukrainerin wäre damals gern dauerhaft in Deutschland geblieben, wollte als Erzieherin arbeiten. Aber sie bekam kein Visum. Also ging sie zurück nach Charkiw, arbeitete dort im Kindergarten – und als private Deutschlehrerin. Sie heiratete, bekam ihren Sohn.
Mit Züleyha Yilmaz vom Jugendtreff blieb sie in Kontakt, über all die Jahre hinweg. Sie schrieben sich, schickten Fotos und Pakete. In den vergangenen Wochen machte Züleyha Yilmaz sich aber immer größere Sorgen. Sie habe geschrieben: „Ist alles okay bei Euch? Sieht ja so ernst aus“, sagt sie.
„Im Fernsehen haben sie gesagt: Ihr müsst eine Tasche mit Dokumenten haben, alles muss vorbereitet sein“, erzählt Yuliia Zadyraka nun. „Ich habe das nicht gemacht. Ich dachte, das passiert nie im Leben.“ Bis sie am Morgen des 24. Februar die Explosionen der Bomben hört.
Mit ihrer Familie flieht sie in den Keller des Hauses. Dort ist es sehr kalt, ihr Sohn kann kaum schlafen. Also bringen sie ihn immer wieder nach oben, legen sich in den Flur der Wohnung, um zumindest vor zersplitternden Fenstern sicher zu sein. Eines Nachts schlägt eine Rakete direkt in ihren Häuserblock ein.
Die Familie muss fliehen, sie irren nachts durch die Stadt, auf der Suche nach einem sicheren Ort. Doch keiner öffnet die Tür, erzählt die 32-Jährige. Schließlich finden sie erst bei Nachbarn und später im Kindergarten eine Unterkunft.
Aber die Flugzeuge fliegen immer öfter, bombardieren den Stadtteil heftig, erzählt Yuliia Zadyraka. Die Familie beschließt, aus Charkiw zu fliehen. Ein Bekannter fährt sie mit dem Auto zum Bahnhof. „Wir sind ganz still gefahren“, erinnert sie sich. „Die Flugzeuge sind geflogen und wir haben gedacht, das ist unsere letzte Fahrt.“ Aber sie schaffen es in einen der Züge Richtung Westen, die völlig überfüllt sind. Den Großteil der Zugfahrt verbringen sie im Dunkeln – das Licht ist ausgeschaltet, aus Angst vor Bombardierungen.
Nach 22 Stunden erreichen sie Lwiw im Westen der Ukraine. Dort treffen sie den Cousin von Yuliia Zadyraka, dessen Frau, ihr erst zwei Wochen altes Baby und dessen Oma.
Gemeinsam wollen die Frauen und Kinder die Ukraine verlassen, die Männer müssen bleiben. Sie fahren zur polnischen Grenze, die letzten Meter laufen sie zu Fuß. Von Polen nimmt das Rote Kreuz sie mit nach Dortmund – dann geht es weiter mit dem Zug nach München. Züleyha Yilmaz hatte da schon lange zugesichert, dass Yuliia Zadyraka und ihr Sohn bei ihr wohnen können. Und eine Bekannte gefunden, die die Familie des Cousins aufnehmen wird.

Yuliia Zadyraka ist froh, jetzt in Sicherheit zu sein – natürlich. Aber sie sagt auch: „Mit meinem Herzen und mit meinen Gedanken bin ich dort.“ Jeden Tag telefoniere sie mit ihrem Mann in Lwiw – und mit anderen Familienmitgliedern und Freunden in der Ukraine. „Wir essen hier zum Beispiel Süßigkeiten. Wir haben keine Gefahr. Sie sind dort im Keller und haben gar nichts. Sie holen nur einmal Brot für zwei Tage.“
Wie es weitergehen soll – das wisse niemand. Auch Yuliia Zadyraka nicht. Die Ukrainerin hofft, mit ihren Deutschkenntnissen bald andere Geflüchtete unterstützen zu können. Etwas Sinnvolles zu tun, um von dem Schrecken in der Heimat abgelenkt zu sein.
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