Es gab Zeiten, da konnten die Konzeptautos aus Stuttgart gar nicht futuristisch genug sein. Flügeltüren, Holografien im Innenraum und Raketen-Nachbrenner am Heck. Alles war erlaubt, wenn es auf den Messen nur Aufsehen erregte. Die tatsächlichen Serien-Chancen zählten weniger. "The car is the star" - das selbstverliebte Motto der Designer und Ingenieure trägt nicht mehr. Antworten sind gefragt, Zahlen und Fakten auch bei den deutschen Herstellern, die sich gerne in erhabenen Luxuswelten wähnen. Fahrzeuge mit vorzeigbaren Klimabilanzen, die sich von den Umweltverbänden nicht so leicht verteufeln lassen. "Wir stellen die Bedürfnisse der Menschen stärker als je zuvor in den Mittelpunkt", sagt Mercedes-Marketingchefin Bettina Fetzer: "In Frankfurt zeigen wir, wie wir dem Wunsch unserer Kunden nach einer intuitiven, nahtlosen und nachhaltigen Mobilität, die gleichzeitig erlebbaren Luxus ermöglicht, begegnen."
Nachhaltiger Luxus - vom Gelingen dieses Spagats hängt die Zukunft der deutschen Premiummarken ab. Mit Kleinwagen, wie sie die Umweltverbände fordern, haben sie noch nie schwarze Zahlen geschrieben. Erst recht nicht mit kompakten Stromern wie dem BMW i3 oder dem Elektro-Smart. Ganz anders die Vision EQS, eine gar nicht bescheidende Fünf-Meter-Limousine, die so ähnlich tatsächlich in Serie gehen soll. So pompös die Premieren-Show unter der 40 Meter hohen Kuppel der Frankfurter Festhalle auch war: Unter der coupéhaften Karosserie steckt eine innovative Plattform: ausschließlich für Elektrofahrzeuge mit 350 kW Ladeleistung und womöglich das erste 800-Volt-Modell der Stuttgarter, ähnlich dem neuen Porsche Taycan. Wie der Sportwagen aus Zuffenhausen soll auch der EQS so flach und verführerisch aussehen wie das Model S von Tesla. Nur so lassen sich die Luxuskunden von emissionsfreien Antrieben überzeugen.
Viel Zeit bleibt nicht. Um den europäischen CO₂-Zielwert für 2021 zu erreichen, braucht Mercedes einen Anteil von acht bis 15 Prozent an Elektrofahrzeugen, rechnen die Experten von Agora Verkehrswende vor: "Während bei BMW in etwa eine Verdopplung des heutigen Absatzes von Plug-in-Hybriden und reinen Batterieautos ausreichen würde, so bedarf es bei Daimler und VW eines etwa fünfmal so hohen Absatzes an E-Fahrzeugen." Dass die Hürde hoch ist, will der neue Daimler-Chef gar nicht leugnen: "Besonders die Jahre 2020 und 2021 stellen eine erhebliche Herausforderung dar", für die Jahre 2022 und 2023 ist Ola Källenius zuversichtlicher. Der gebürtige Schwede will die gesamte Pkw-Flotte mit dem Stern bis 2039 auf C0₂-Neutralität trimmen. Plug-in-Hybride, wie sie auf der IAA auch bei den Stuttgartern noch im Mittelpunkt stehen, können dafür nur eine Übergangslösung sein.
Nicht umsonst bekommen die Teilzeitstromer ihren Auftritt gleich zu Beginn der Daimler-Show. Weil sie auf den traditionellen Antriebsarchitekturen basieren, sind sie schnell verfügbar. Doch warum zeigt die Marke mit dem Stern eine elektrische Luxuslimousine als Ausblick statt bezahlbarer Batterieautos auf Basis der A- oder C-Klasse mit viel höheren Verkaufszahlen? "An diesen Modellen wird parallel gearbeitet," sagt Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer. "Aber wenn man da jetzt schon was zeigt, dann kauft doch keiner mehr die Hybride." Källenius kündigt zwar auf der IAA an: "Weitere Kompaktmodelle werden folgen." Welche das genau sind, wann es diese Fahrzeuge tatsächlich zu kaufen gibt und zu welchem Preis, das erfährt man in Frankfurt nicht.
Plug-in-Hybride gibt es zuhauf, für eine emissionsfreie Zukunft wird das nicht reichen
Der Hauptgrund, warum ein Luxusstromer in der Festhalle steht: In diesem Segment lässt sich mit Elektro am ehesten Geld verdienen. Kunden, die bereit sind, einen sechsstelligen Betrag für ein Auto auszugeben, stören auch Batteriekosten von 10 000 bis 15 000 Euro wenig. Im Gegenteil: Mit dem Ökoablass wollen sie sich von allen Klimasünden freikaufen. Dass die Nachfrage da ist, zeigen Teslas Model S und die Vorbestellungen für den Taycan. Kein Wunder also, dass Daimler-Chef Källenius bei seinem ersten IAA-Auftritt genauso viel von Nachhaltigkeit wie von Luxus redet. Er sagt auch: "Es gibt die Nachfrage nach dem Besonderen." Der Markt für Luxusgüter habe sich in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht. Die S-Klasse sei schon immer die "Speerspitze der Innovation" gewesen, der "Mercedes unter den Mercedes". Aber gilt das wirklich für den EQS, für den Daimler noch nicht kommuniziert, wann eine Serienversion auf die Straße kommen wird?
Die vorläufigen technischen Daten klingen zumindest nicht nach Revolution. Jeweils ein Elektromotor an der Vorder- und der Hinterachse treiben das Auto an, die Batteriekapazität soll bei etwa hundert Kilowattstunden liegen. Als Systemleistung nennt Mercedes 485 PS, der Sprint von null auf hundert soll in unter 4,5 Sekunden möglich sein. Das können ein Tesla Model S oder der Porsche Taycan jetzt schon besser. Einzig bei der Reichweite lehnt sich Mercedes weit aus dem Fenster: Bis zu 700 Kilometer sollen nach WLTP-Standard möglich sein.
Was auch auffällt: Die Stuttgarter positionieren den EQS offensiv als "Selbstfahrer-Auto". Natürlich soll der Wagen über hochautomatisierte Systeme auf Level 3 verfügen. Die neue S-Klasse, die voraussichtlich Mitte des nächsten Jahres auf den Markt kommt, startet aber bereits mit einem solchen Autobahnpiloten. Das Signal ist klar: Der EQS will kein Robotaxi sein, sondern den Kunden weiterhin Freude am Fahren vermitteln. Zumindest zeitweise, denn in zehn Jahren dürfte der eingebaute Chauffeur in dieser Klasse zum Standard gehören. Dort lässt sich das nötige Geld verdienen, um die anfänglich teure Technologie schnell in die unteren Klassen durchsickern zu lassen.
So nachvollziehbar die bewährte Luxusstrategie in Frankfurt zunächst wirkt, so riskant ist diese Rechnung mit vielen Unbekannten. Da sind nicht nur die Proteste der Umweltschützer gegen die Platzverschwendung durch Riesenautos. Angriffe kommen auch von neuen Wettbewerbern, die sich vom Start weg auf einen Spitzenplatz in der neuen Mobilitätswelt katapultieren wollen. Byton etwa will mit dem M-Byte schon übernächstes Jahr nach Europa kommen. Mit einem wahnwitzigen 48-Zoll-Display, das den gesamten Platz unter der Frontscheibe einnimmt, natürlich auch mit der Fähigkeit zum hochautomatisierten Fahren und einem Einstiegspreis wie von einem anderen Stern: 45 000 Euro (vor Steuer) soll der rein elektrische Super-SUV kosten. Wenn der Service besser funktioniert als bei Tesla, müssen sich die Wettbewerber in der gehobenen Mittelklasse warm anziehen.
VW hält in der Kompaktklasse dagegen: Mit dem ID.3 im Golf-Format, der nicht nur umwelt- und stadtfreundlich ist, sondern als einer der ersten Stromer auch Gewinne abwerfen könnte. Auf der Messe tritt der Markenchef Ralf Brandstätter Gerüchten jedenfalls nicht entgegen, die von einem Zell-Einkaufspreis unterhalb von 100 Euro pro Kilowattstunde wissen wollen. Erst an dieser Schwelle verlieren Stromer ihren Kostennachteil gegenüber Verbrennermodellen. Damit steigen die Marktchancen für schnell folgende VW-Elektromodelle wie einen Kompakt-SUV, eine Limousine, einen offenen Buggy und den ID Buzz, der die Begeisterung für den ersten VW Bulli wieder aufleben lassen soll. "Die Deutschen lieben ihre Autos und wollen sie eben nicht abgeben", sagt Ferdinand Dudenhöffer, noch nie habe es hierzulande so viele Autos gegeben wie heute.