Wenn Greta Thunberg über die Zukunft spricht, denkt sie nicht an Machbarkeiten. Sie denkt nicht an die Aktienkurse von Autoherstellern und Energiekonzernen. Nicht an Bestandsgarantien, Weltwirtschaftswachstum oder politische Zwänge. Thunberg denkt an ihre eigene Generation. Sie kämpft und sagt: "Solange ihr euch nicht darauf konzentriert, was getan werden muss, sondern darauf, was politisch möglich ist, gibt es keine Hoffnung."
Dies ist kein Artikel über Greta Thunberg, sondern über deutsche Debattenkultur - oder genauer gesagt: deren Abwesenheit. Greta Thunberg ist dafür ein Gedankenanstoß, denn die 16-jährige Schwedin ist kompromisslos. Das ist unerhört in diesem Land, das die Konsenskultur so lange als Ideal gepredigt hat, bis sich niemand mehr traute, etwas zu sagen, dass kein Konsens ist. Es sagt etwas über Deutschland, wie viel Misstrauen Thunberg auf sich zieht - und wie viel Begeisterung, dass da endlich jemand ist, der kämpft.
Wer radikale Forderungen aufstellt, gilt sofort als Spinner, als unvernünftiger Idealist, den man nicht ernst nehmen muss. Dabei ist die Meinungsverschiedenheit doch das Vorspiel zum Kompromiss. Es muss möglich sein, auch extreme Ideen zu formulieren, um Veränderungen anzustoßen - und um wirkliche Kompromisse zu finden. Wer den Kompromiss von vornherein als Ziel hat, darf sich nicht wundern, wenn der Kompromiss am Ende der Verhandlung sehr weit entfernt von den eigenen Zielen endet. Man muss für Plan A kämpfen, um bei einem Plan B zu landen, der die eigenen Ideale noch enthält. Wenn Gewerkschaften zum Beispiel die Interessen der Gegenspieler schon von Anfang an mitdenken, vertreten sie ihre eigenen nicht richtig. Wenn Frauen immer nur das fordern, was sie für das ohne große Schmerzen Erreichbare halten, bekommen sie als Erfolg präsentiert, wenn unter zehn Vorstandsmitgliedern eine Frau ist. Warum fordert eigentlich niemand zehn? Dann wäre der Kompromiss: fünf.
"Du kannst zwar wählen, aber du hast keine Wahl", sagt der Soziologe Colin Crouch
"Wir können keine Kompromisse eingehen über die Richtung, in die wir gehen", sagt Alexandria Ocasio-Cortez. Der 29-jährige Star der Demokratischen Partei in den USA, der gerne mit den Initialen AOC abgekürzt wird, streitet für eine extrem teure Umweltpolitik namens "Green New Deal", setzt sich zur Wehr gegen Rassismus. "Wir als Partei machen schon Kompromisse, bevor wir uns überhaupt an den Verhandlungstisch setzen", kritisiert sie. AOC ist ein Vorbild, und sie bewegt ihr Land. Die USA haben ihr historisch starkes Talent zum Streit zuletzt verloren. Denn Debatten scheitern, wenn man über Fakten streitet. Echter Streit ist nur möglich, wenn es um die Bewertung der Wahrheit geht, nicht ums Erfinden von Wahrheiten.
Die Debatte um die Bewertung der Wahrheit ist Kern der Demokratie. Demokratie ist nicht Konsens, sondern die Suche nach dem Konsens. Konsens ist nur eine Antwort, wenn vorher eine Frage diskutiert wurde. Die USA sind eigentlich geübt darin, schließlich sitzen bibeltreue Ultrakonservative und Sozialisten gemeinsam im Parlament. Deutschland aber fordert von vornherein, dass nur Konsensfähiges gesagt wird. Das bremst den Fortschritt aus, der bedeutet, dass etwas passiert, das bislang eben nicht Konsens ist. Nicht nur Populismus schadet der Gesellschaft - auch Phlegma.
Deutschlands Unwilligkeit zu echtem Streit ist auch Konsequenz einer Regierung, die den Begriff "alternativlos" geprägt hat. Angela Merkel hat die in der Nachkriegszeit regere Debattenkultur diesem Gedanken geopfert: Es gibt nur eine Lösung für Probleme, weil alle anderen zu radikal wären. Diskussionen, die vor der alternativlosen Lösung stehen, sind nichts als Show. "Wenn die politische Debatte alternativlos wird, wissen wir irgendwann nicht mehr, was alles möglich wäre und wer wir sein könnten. Dann gibt es uns jemand vor. Entweder durch gelebte Alternativlosigkeit. Oder, weit schlimmer, durch eine Politik des Durchregierens und am Ende eine Politik der Allmacht", sagt der Grünen-Politiker Robert Habeck. "Du kannst zwar wählen, aber du hast keine Wahl", beschreibt das der britische Soziologe Colin Crouch. Den Menschen bleibt das Gefühl, dass es nicht wirklich um etwas geht.
Vor allem linke Politik hat sich Gedankenverbote auferlegt. Aus Angst, zu sehr anzuecken, ist sie so Wischiwaschi geworden, dass sie als Linke kaum noch erkennbar ist. Man konnte das an dem Schauspiel um Kevin Kühnert beobachten. Der Chef der Jungsozialisten hat gewagt, darüber nachzudenken, wie der demokratische Sozialismus der Zukunft aussehen könnte. Er hat Probleme beschrieben, für die man nicht radikal sein muss, um sie als Problem zu empfinden: Eigentum und Vermögen sind ungerecht verteilt, die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Dann hat er Lösungen vorgeschlagen, die radikal sind: eine "Kollektivierung" von Unternehmen wie BMW zum Beispiel, wenn das Volk sie denn wünscht.
Danach ist Deutschland über Kühnert hergefallen. Man kann viel einwenden gegen seine Idee, man kann sich etwa fragen, was mit der Konkurrenzfähigkeit von BMW im globalen Wettbewerb passieren würde und ob es nicht sinnvoller wäre, Unternehmen der Daseinsvorsorge wie Energieversorger zu verstaatlichen. Doch echter Diskurs fehlte, stattdessen erhob sich der Chor der Empörten, der Kühnert als naiven Fantasten geißelte, der von Geschichte und Wirtschaft keine Ahnung habe.
Wer etwas Kontroverses sagt, muss Kritik aushalten können. Kühnert kann das. Greta Thunberg auch. "Es ist mir egal, ob ich beliebt bin", sagt sie. Den meisten Menschen ist das nicht egal. Denn was sie erleben, ist keine Sachkritik, auf die man mit Argumenten antworten könnte. Der Tonfall, in dem Inhalte abgebügelt und Menschen abgewatscht werden, kann abschrecken, sich mit kontroversen Ideen an die Öffentlichkeit zu trauen, in die Politik zu gehen oder in der Wirtschaft Führungspositionen anzustreben. Es lässt die Zahl der Stimmen, die mitreden, schrumpfen. Empörung und Verächtlichkeit ersetzen echte Diskussion. Früher hätte das verkrustete Deutschland Kühnert ein "Geh doch rüber in die DDR, wenn's dir hier nicht passt" entgegengeworfen. Heute klingt das so: Sozialismus ist mal probiert worden, ist gescheitert, darf man nie wieder drüber nachdenken. So verpufft Kühnerts Vorstoß, wenn sich die Empörungswelle wieder legt.
Sogar die Gewerkschafter stimmen ein in die Entrüstung über eine ja klassisch linke Forderung - und das obwohl die Satzung der IG Metall die Vergesellschaftung großer Industriebetriebe ausdrücklich als Ziel nennt. Wieso überlässt es das Land der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, über die Aufgabe von Gewerkschaften zu sprechen? Die MLPD druckt auf ihre Werbeplakate zur Europawahl: "Gewerkschaften: Kampf statt Co-Management". Das klingt so radikal, weil dieser Kampf nicht mehr stattfindet. Die Arbeitnehmervertreter haben die Bedürfnisse der Arbeitgeber verinnerlicht. Die Arbeitgeber hinterlassen nicht den Eindruck, gleichzeitig sensibler für die Nöte der Arbeiter geworden zu sein. Die Interessen der vielen Menschen, die von ihrer Arbeit kaum leben können, vertritt niemand so energisch wie die der Aktionäre.
Deutschland rutscht immer weiter nach rechts, wenn linke Ideen als so gaga abgestempelt werden, dass man über sie noch nicht einmal reden muss. Die Rechten dagegen, die am lautesten über Denkverbote maulen, bekommen in Wirklichkeit am meisten Gehör. Thilo Sarrazin zum Beispiel, der immer wieder so tut, als sei er Opfer von Sprechverboten, füllt Säle und verkauft Bestseller. Wenn die Rechten fordern, auf Flüchtlinge an der Grenze zu schießen, scheint es, als müsste man ihnen entgegenkommen. Der ebenso radikale Gegenvorschlag, Grenzen schlichtweg abzuschaffen, wird kaum diskutiert. Nun lässt man Menschen ertrinken, statt sie zu erschießen. Das ist kein Konsens.
Die Hoffnung der Welt sind junge Menschen: AOC, Kühnert, Thunberg und die Schüler
Eine Studie zeigt, dass Meinungspluralität der gesellschaftlichen Balance hilft. Forscher der University of Chicago haben mehr als 200 000 Wikipedia-Seiten ausgewertet und festgestellt, dass Artikel zu kontroversen Themen, an denen Menschen mit sehr unterschiedlichen Meinungen gearbeitet haben, besser sind als Artikel, die von moderaten oder einseitigen Teams bearbeitet wurden. Eine schärfere Debatte führt zu ausgewogeneren Einträgen im Online-Lexikon. "Wenn wir politisch unterschiedlich sind, bringen wir verschiedene Perspektiven ein", sagt Studienautor James Evans. "Wenn wir zusammenarbeiten, schaffen wir eine ausgeglichenere Gesamtperspektive." Wenn Firmen oder Politiker über Vielfalt sprechen, geht es ihnen meist um Frauenquote und Menschen mit verschiedener Herkunft. Genauso wichtig sind unterschiedliche Ansichten.
Aber wo gibt es heute Raum für Debatten? Gewerkschaften, Parteien, Stammtische, Vereine - alle verlieren Mitglieder und Relevanz. Stattdessen suchen sich die Menschen neue Plattformen, auf denen sie ihre Meinungen kundtun: soziale Medien. Dort kann man zwar alles sagen, aber wird von der breiten Masse nicht gehört. Es diskutieren nur die miteinander, die sowieso der gleichen Ansicht sind. Das ist kein Diskurs, sondern das Gegenteil: Selbstversicherung. Im analogen Leben ist es nicht anders: Ohne Institutionen, die unterschiedliche Menschen zusammenbringen, bleibt man unter sich. Dann sitzt man mit Freunden zwischen Billy-Regalen, isst Risotto und ist sich einig, dass die AfD gar nicht geht. Und es ändert sich nichts.
Die Hoffnung der Welt sind junge Menschen: AOC, Kühnert, Thunberg und all die Schüler, die an den "Fridays for Future" auf die Straße gehen, weil sie noch glauben, dass eine bessere Welt möglich ist. "Wer mit 20 kein Sozialist ist, der hat kein Herz. Wer es mit 40 immer noch ist, hat keinen Verstand", schmettert es ihnen altväterlich entgegen. Doch es sind junge Menschen, die eine Debatte voranbringen, weil sie noch nicht hundert Mal gehört haben, dass dies oder das nicht geht, wegen Aktienkursen, Bestandsgarantien, politischer Zwänge. "Wir halten Zynismus für die intellektuell überlegene Haltung und Ambition für jugendliche Naivität. Aber die größten Errungenschaften der Gesellschaft sind ambitionierte Taten mit Vision", sagt AOC. "Konflikt ist Teil des Wandels."