Streitkultur:Was wir von der Mathematik für unsere Debatten lernen können

Streitkultur: Entgegen der weitverbreiteten Meinung, in der Mathematik gäbe es auf jede Frage genau eine richtige Antwort und somit keinen Platz für Dissens, herrscht Uneinigkeit.

Entgegen der weitverbreiteten Meinung, in der Mathematik gäbe es auf jede Frage genau eine richtige Antwort und somit keinen Platz für Dissens, herrscht Uneinigkeit.

(Foto: Tim Gouw/Unsplash; Collage SZ)
  • Fragen wie "Welche Religionen gehören zu Deutschland?" oder "Dürfen wir das menschliche Erbgut manipulieren?" werden in der Überzeugung diskutiert, man sei auf der Suche nach genau einer, nämlich der richtigen Antwort.
  • Die Pluralismusdebatte in der Grundlagenmathematik zeigt, dass diese Überzeugung möglicherweise falsch ist. Die Mathematik hält Uneinigkeit in zentralen Fragen gelassen aus.
  • Vielleicht geht man unlösbar scheinende Fragen am besten pragmatisch und nicht dogmatisch an.

Gastbeitrag von Silvia Jonas

Wenn doch alle Dinge so eindeutig wären wie in der Mathematik. Klare Regeln der Beweisführung, lückenlose Argumentation, zu jeder Frage genau eine richtige Antwort. Kein Platz für Uneinigkeit, sobald ein Beweis steht.

Die Mathematik verkörpert für viele das Ideal eines widerspruchsfreien Gesamtbilds, ein Ideal, an dem sich nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch alle anderen Diskursbereiche orientieren, die den Anspruch auf Objektivität erheben. Fragen wie "Welche Religionen gehören zu Deutschland?", "Ist Sicherheit wichtiger als Freiheit?" oder "Dürfen wir das menschliche Erbgut manipulieren?" werden in der Überzeugung diskutiert, man sei auf der Suche nach genau einer, nämlich der richtigen Antwort. Die Pluralismusdebatte in der Grundlagenmathematik zeigt, dass diese Überzeugung möglicherweise falsch ist.

Das mathematische Ideal beherrscht unser Denken seit Jahrtausenden. Zwar entwickelten sich die frühe mesopotamische und ägyptische Mathematik in Konsequenz praktischer Bedürfnisse von Zivilisationen, wie zum Beispiel der Besteuerung, der Messung von Landflächen oder der Berechnung von Mondkalendern. Angesichts ihrer Exaktheit schrieb die Philosophie der Mathematik jedoch bald eine weitere Rolle zu, nämlich die eines Paradigmas für menschliches Denken und Wissen. Platon betrachtete die Mathematik als höchste Form des Wissens, die sich als solche deutlich von unseren unsicheren Ansichten über die empirische Welt unterscheidet.

Für Platon war mathematische Kompetenz die Grundlage für jeden Erwerb von Wissen

Er glaubte, dass mathematisches Wissen im Wissen über ewige "Formen" besteht - perfekte Ideen, welche die ultimative Realität darstellen. Und er sah mathematische Kompetenz als unerlässlich für den Erwerb von Wissen überhaupt an. Galileo Galilei betrachtete die Mathematik als die "Sprache des Buches der Natur". Immanuel Kant argumentierte, dass die Mathematik wesentliche Einblicke in eine ganze Gattung menschlicher Urteile möglich mache. Der Mathematiker Georg Cantor fand Gott in den transfiniten Zahlen. Kurz: Die Vorstellung, die Mathematik sei der Schlüssel zum Verständnis der Grundstrukturen der Realität, beherrscht die Philosophie seit Jahrtausenden.

Im 19. Jahrhundert änderte sich dieses Bild dramatisch. Durch die Einführung von Begriffen mit geringer oder gar keiner physischen Bedeutung löste sich die Mathematik von der empirischen Welt. Komplexe Zahlen, n-dimensionale Räume, abstrakte Algebren, pathologische Funktionen und nicht-euklidische Geometrien standen nun im Fokus mathematischer Forschungen. Daraufhin "explodierte die Mathematik in hundert Gebiete", wie es der Mathematikhistoriker Morris Kline formulierte. Das führte zu einer tief greifenden Veränderung des Verständnisses ihrer Beziehung zur Welt.

Die Empiriker des Wiener Kreises betrachteten die Mathematik einfach als nützliches Werkzeug für die Naturwissenschaften, dessen Sätze nichts über die Welt aussagen und allein aufgrund sprachlicher Konventionen als wahr zu betrachten sind. Die Sichtweise, dass der Schlüssel zu den ultimativen Wahrheiten der Realität nicht etwa in der Mathematik, sondern allein in den empirischen Wissenschaften zu finden ist, setzte sich durch. Die Mathematik war tief gefallen, von Platons Himmel der perfekten Formen in den glanzlosen Werkzeugkasten der Naturwissenschaftler.

Silvia Jonas

In der Ideengeschichte der Mathematik Vorbilder für moderne Debatten gefunden: Silvia Jonas, Fellow am Munich Center for Mathematical Philosophy.

(Foto: Privat)

Im 20. Jahrhundert stellten die Entwicklungen in der modernen Mengenlehre dieses Bild wiederum auf den Kopf. Durch bahnbrechende Beweise kristallisierte sich heraus, dass die Mengenlehre ein Fundament für die gesamte Mathematik darstellt. Plötzlich konnten sogar die unterschiedlichsten der "hundert Gebiete" der Mathematik in einem einheitlichen Rahmen interpretiert und auf Kohärenz getestet werden. Unklare Begriffe und Strukturen wurden präzisiert. Die grundlegenden Annahmen, die in verschiedenen Formen in verschiedenen Gebieten gemacht wurden, konnten identifiziert werden, und durch ihre neue einheitliche Darstellung wurden bis dato verborgene Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gebieten der Mathematik sichtbar. Platons Vision hatte sich in gewissem Sinne bewahrheitet: Die Mathematik hatte ihre eigenen Fundamente entdeckt und sich, wie der Mathematiker David Hilbert es beschrieb, zu einem autonomen "Paradies" entwickelt, an dessen unüberbietbarer Exakt- und Gewissheit sich jede andere Wissenschaft und jeder Diskurs messen muss.

Die Mathematik ist kein Universum, sondern ein Kosmos unterschiedlicher Realitäten

Heute, im frühen 21. Jahrhundert, wissen wir allerdings, dass sogar Paradiese unvollkommen sind. Unzählige mathematische Hypothesen sind in dem mengentheoretischen Axiomensystem "ZFC", welches das Fundament aller Mathematik darstellt, nicht entscheidbar. Und es ist nicht einmal klar, ob es auf jede dieser offenen mathematischen Fragen wirklich nur genau eine richtige Antwort gibt.

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