Fußball-WM:Eine gegen sieben

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"Ich weiß nur, dass ich zehn Jahre älter geworden bin": Trainerin Sarina Wiegman trifft nach dem erst im Elfmeterschießen gesicherten WM-Viertelfinaleinzug mit England nun auf Kolumbien. (Foto: Dan Peled/Reuters)

Sarina Wiegman ist im WM-Viertelfinale die einzige Trainerin. 2022 gewann die Niederländerin mit England im Endspiel gegen Deutschland den EM-Titel - nun soll der nächste Coup folgen.

Von Anna Dreher, Sydney

Wer weiß, was für heftige Reaktionen dieser Aussetzer noch ausgelöst hätte, wenn Nigeria statt England ins Viertelfinale eingezogen wäre? In der 87. Minute trat Lauren James der auf dem Boden liegenden Michel Alozie nach einem Foul absichtlich in den Rücken und musste nach der bisher unsportlichsten Szene dieser Weltmeisterschaft vom Platz. Der frühere Nationalspieler Gary Lineker sprach von einem "Beckham'schen Moment des Wahnsinns" in Anlehnung an die Rote Karte für David Beckham, die 1998 zum WM-Aus der Engländer gegen Argentinien führte.

Diesmal aber schrammte England am frühen Aus vorbei und rettete sich im Elfmeterschießen in die nächste Runde. Am Samstag geht es nun in Sydney gegen Kolumbien. Und so, wie die Südamerikanerinnen die einzig verbliebenen Außenseiterinnen sind, ist Sarina Wiegman nun die einzig verbliebene Trainerin des Turniers. Zu Beginn dieser Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland wurden zwölf von 32 Nationalteams von Frauen angeleitet, in der K.o.-Phase dann vier, nun steht es 1:7 - und es spricht einiges dafür, dass Wiegman diese Sonderrolle hier noch etwas länger inne hat.

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Die 53-Jährige aus Den Haag gilt als eine der Besten ihres Fachs. 2017 hielt sie mit den Niederländerinnen dem Druck eines Turniers in ihrem Heimatland stand und gewann die Europameisterschaft. Es war das erste Mal seit dem Start ihrer Karriere an der Seitenlinie 2006 beim niederländischen Klub Ter Leede, dass sie als Chefin auf einer so großen Bühne in der Verantwortung im Fokus stand. Wie gut Team und Trainerin harmonierten, bewies die WM zwei Jahre später, als sich die Niederländerinnen erst im Finale dem Titelverteidiger USA geschlagen geben mussten. Und vielleicht auch weil sie das Gefühl hatte, aus dieser Partnerschaft das Maximum herausgeholt zu haben, widmete Wiegman sich danach der nächsten Herausforderung.

Was hat sie diesmal geplant? Sarina Wiegman. (Foto: Dan Peled/Reuters)

Im September 2021 übernahm sie Englands Nationalteam - und vollbrachte im Sommer 2022 bei der EM zum zweiten Mal das Kunststück, als Gastgeber zu reüssieren. Im Finale schlug sie Deutschland 2:1 nach Verlängerung - und brachte England den ersten Fußballtitel seit dem WM-Erfolg der Männer 1966. Wenn sich ihr Turniermuster fortsetzt, würde ihr Team also am 20. August das Finale im mehr als 80 000 Zuschauer fassenden früheren Olympiastadion spielen, theoretisch sogar gegen die Niederlande. Noch sind die Engländerinnen bei der WM ungeschlagen. Obwohl allein in Stürmerin Beth Mead und Kapitänin Leah Williamson zentrale Stützen fehlen. Und auch wenn ihre Spielerinnen noch keinen berauschenden Auftritt hingelegt haben: Wiegman wusste mit der Situation umzugehen.

Englands Stärke bei der WM ist die Unberechenbarkeit

Beim Auftakt gegen Haiti fehlte es an offensiver Durchschlagskraft, mehr als ein maues 1:0 war nicht drin. Gegen Dänemark reagierte Wiegman, indem sie Lauren James als Zehner beginnen ließ, Rachel Daly stellte sie wie bei der EM als linke Außenverteidigerin auf. Die Umstellung führte zu mehr Aggressivität in den Angriffen. Dass sich Keira Walsh verletzte, brachte Unruhe ins Team, die Mittelfeldspielerin ist kaum zu ersetzen - doch auch gegen China fand Wiegman eine Lösung. Sie wechselte ihr Personal und von einer Vierer- zu einer Dreier-Abwehrkette in einem 3-4-1-2-System, stellte das Mittelfeld um und freute sich am Ende über ein 6:1. Statt verunsichert von der Umstellung zu sein, traten die Spielerinnen souveräner auf.

Ein Geschoss vom Punkt: Chloe Kelly donnert den entscheidenden Elfmeter gegen Nigeria mit 111 km/h ins Netz. (Foto: Bradley Kanaris/Getty)

Ausgerechnet Wiegman, die höchst ungern von ihrem Plan oder ihrer Startelf abweicht, zeigte sich notwendigerweise flexibel. Und während bei der EM 2022 Stringenz zur Stärke ihres Teams wurde, ist es ein Jahr später die Unberechenbarkeit. Was hat sich die frühere Nationalspielerin fürs Viertelfinale überlegt? Mögen die Spekulationen beginnen!

Gegen die besser agierenden Nigerianerinnen zeigte sich nach einem sehr mühseligen Spiel der "Lionesses" die gute Vorbereitung: "Wir haben über die Psychologie eines Elfmeters gesprochen, und wir haben über die Ausführung gesprochen", sagte Wiegman. "Wir haben einfach versucht, uns so gut wie möglich vorzubereiten. Körpersprache gehört dazu, wie auch, sich gegenseitig zu unterstützen." Chloe Kelly donnerte den entscheidenden Elfmeter dann mit 111 km/h Selbstbewusstsein ins Netz - mehr Wumms als jeder Schuss der vergangenen Premier-League-Saison. "Ich weiß nicht, wie hoch mein Puls ist", sagte Wiegman danach. "Ich weiß nur, dass ich zehn Jahre älter geworden bin."

"Sie stellt uns als Menschen an oberste Stelle", sagt Leah Williamson

Wiegman wirkt an der Seitenlinie bisweilen streng und warmherzig zugleich. Und es ist neben ihrem Fachwissen und ihrer Strukturiertheit wohl genau diese Mischung, auf der ihr großer Erfolg als Trainerin basiert. Sue Campbell, FA-Direktorin für Frauenfußball, erzählte über die Anfänge, dass der Verband gewusst habe, er würde "die beste taktische und technische Trainerin der Welt verpflichten. Was wir nicht wussten, war, dass wir diesen außergewöhnlichen Menschen bekommen." Von den Spielerinnen war zu hören, dass Wiegman das Team zusammengebracht und zu einer Einheit geformt habe. Leah Williamson sagte bei der EM-Titel-Party auf dem Trafalgar Square, Wiegman sei die fehlende Zutat, nach der England gesucht habe: "Sie stellt uns als Menschen an oberste Stelle."

Dass die als bescheiden geltende Wiegman in ihrer Arbeit grundsätzlich eine sehr sachliche und direkte Art pflegt, wurde auf der Pressekonferenz nach der Partie gegen Haiti auf unterhaltsame Weise deutlich. Georgia Stanway erzählte, von Tag eins an habe Wiegman großen Wert auf das Thema Familie gelegt. "Wir können diese besonderen Momente mit unserer Familie haben", sagte die Bayern-Spielerin. "Wir können uns entspannen und die Zeit mit der Familie genießen, selbst Sarina." Der Nachschub löste kurz Irritation aus. Was heiße das denn, selbst Sarina? "Manchmal begreifst du nicht, dass deine Cheftrainerin tatsächlich ein Mensch ist. Es ist schön, das zu sehen." Die zweifache Mutter und verheiratete Wiegman hob kurz die Augenbraue. Dann lachte sie.

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