Die Reisepläne der wichtigsten Gäste in der Box von McLaren waren perfekt auf den ebenso plötzlichen wie wundersamen Wiederaufstieg des Dinosaurier-Rennstalls abgestimmt. Nicole und Chris Piastri, die Eltern des Formel-1-Neulings Oscar Piastri, hatten sich aus dem australischen Melbourne auf den Weg nach Silverstone gemacht, um ihren schnellen Sohn beim Großen Preis von Großbritannien zu erleben. Sie erlebten ihn als Dritten beim Start, was schon eine Sensation war, und als Vierten im Ziel, was vor dem zehnten WM-Lauf als Triumph gefeiert worden wäre, am Ende des Rennnachmittags aber bittersüße Gefühle weckte.
Dann war da auch noch eine Delegation des Königshauses von Bahrain, das erhebliche Anteile an dem britischen Team besitzt, das in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiert. Die Investoren hatten ihren Flug weit spontaner gebucht als die Piastris ihre 17 000 Kilometer lange Anreise - erst am Samstag, nachdem Lando Norris in der Qualifikation auf den zweiten Platz gerast war. Der Brite, der schon länger als Zukunftshoffnung der Rennnation gilt, wenn Lewis Hamilton einmal abtreten sollte, enttäuschte weder die Geldgeber noch die Einheimischen unter den 160 000 Zuschauern: Er ging am Start gleich an Max Verstappen vorbei und schnupperte für ein paar Runden lang als Spitzenreiter abgasfreie Luft, ehe der Niederländer die ganze Kraft seines Red-Bull-Rennwagens ausspielen konnte. Ähnlich groß war der Jubel in der Schlussphase des Grand Prix, als Norris sich gegen den auf frischen Reifen fahrenden Hamilton zur Wehr setzen musste. Drei packende Angriffs- und ebensolche Abwehrversuche, dann hatte Norris seinen zweiten Platz und das erste Podium in Silverstone sicher, was in der Lesart des britischen Motorsports einem Ritterschlag gleichkommt.
Im Auf und Ab der hinter Max Verstappen beginnenden Formel 1 ist damit eine neue Farbe im Spiel: Papaya. So nennt sich das Orange, das Rennstallgründer Bruce McLaren 1968 gewählt hatte, um sich von den anderen abzuheben. Norris steuerte optisch nicht ganz so geschmackvoll für das eigene Merchandising-Geschäft einen Anglerhut bei, ganz in grelles Neon getaucht. Auffälliger geht es kaum, und es passt zum Trend des kürzlich generalüberholten MCL 60: Vierter beim Debüt in Österreich, jetzt Zweiter in Mittelengland. Der letzte WM-Titel von McLaren liegt 15 Jahre zurück, es war der erste von Hamilton. Danach: Abwechselnd Hoffnung und Verzweiflung, samt Absturz auf den vorletzten Platz. Nach dem Aufschwung jetzt ist McLaren Fünfter. Noch weit weg von Ferrari, aber vor dem französischen Werksteam von Alpine. Auf den kommenden Rennstrecken und bei heißeren Temperaturen muss McLaren beweisen, dass das Team für den Durchbruch bereit ist. Doch die eigene Geschichte bietet ein mahnendes Beispiel.
In Monza 2021 gab es einen Doppelerfolg - danach ging es schrittweise rückwärts statt voran. In schnellen und in mittelschnellen Kurven ist der McLaren ein Spitzenauto, in langsamen Kurven noch ein Hinterherfahrer. Hamilton hält das Konkurrenzprodukt trotzdem für eine "Rakete", und Mercedes-Teamchef Toto Wolff gibt angesichts des immer noch nicht stabilen Silberpfeils zu: "Chapeau! Du brauchst die richtigen Ideen, die müssen am Auto dann aber auch funktionieren."
Der Plan von Zak Brown, dem US-Amerikaner an der Spitze eines zutiefst britisch geprägten Rennunternehmens, reicht aber weit über ein saisonales Zwischenhoch hinaus. Besitzer Brown hat nach dem Abschied des deutschen Teamchefs Andreas Seidl zum künftigen Audi-Team Sauber die Strukturen radikal umgebaut. Technikdirektor James Key musste gehen und folgt Seidl; alle Macht hat nun der Italiener Andrea Stella. Und der ehemalige Ferrari-Mann stellt die Führung breiter auf. Eine ganze Gruppe von Ingenieuren treibt den Wandel voran. Allen voran Aerodynamiker Peter Prodromou, der sein Handwerk bei Red Bull perfektioniert hat. Vom Branchenführer kommt zum Jahresende der nächste Top-Mann, Chefingenieur Rob Marshall.
Stella ist leidenschaftlich nüchtern, ein Techniker als Stratege: "Wir wollen anders arbeiten als die anderen", sagt der 52-Jährige. "Ich konzentriere mich darauf, die richtigen Dinge zu tun, eine Vision für das Team zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass sie auch jeder versteht."
Norris' jungenhafter Charme verleiht McLaren Lebendigkeit
Im Fahrerlager wird gemunkelt, dass der neue McLaren der übererfolgreichen Rennwagenschöpfung von Adrian Newey für Red Bull Racing wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Das ist das generelle Pech aller Trendsetter, denn die Formel 1 ist immer ein rasender Copyshop. Doch wie gesagt: Für Brown soll es nur ein Startpunkt für ein eigenes Imperium sein. Beirren lässt er sich nicht, und natürlich ist da der Wettstreit mit Aston Martin, der anderen Überraschung dieser Saison. Max Verstappen ist gewarnt, obwohl sein Team bisher alle Rennen gewonnen hat, zehn von zehn, und er davon die letzten sechs in Serie. "Die Konkurrenten hinter uns haben bei der Entwicklung Druck gemacht und die Lücke geschlossen, also müssen wir versuchen, noch ein bisschen mehr zu finden", sagt der Niederländer, dessen einziger Schwachpunkt gelegentlich die Starts sind, was auch Lando Norris eiskalt ausgenutzt hat.
Auch mit 23 können Rennfahrer schon in Erinnerungen schwelgen. Der Zweite, der wie ein Sieger gefeiert wurde, rief sich 2007 ins Gedächtnis, als er erlebte, wie hart die McLaren-Piloten Lewis Hamilton und Fernando Alonso in Silverstone um die Spitze kämpften: "Dass ich mich jetzt im gleichen Team in der gleichen Position am gleichen Ort in der gleichen Situation wiedergefunden habe, ist etwas Besonderes. Es macht mich sehr stolz", sagte Norris am Sonntag.
Was den Stolz angeht, ist er in jedem Fall im richtigen Team. Aber mit seinem jungenhaften Charme sorgt er für Lebendigkeit in der Zukunftsfabrik von Woking. Norris gilt als Spaßvogel unter den Formel-1-Piloten, ist erklärter Instagram-Schwarm und gibt unumwunden zu, dass er beim Schritt aufs Podium Herzrasen hatte. Er wusste natürlich, dass er Verstappen auf der Piste nicht lange würde standhalten können, aber er wusste auch, dass die ganze Welt (bis auf die Niederlande) auf ihn setzen würde. Die Chance hat er zur Eigendarstellung genutzt. Mittlerweile wird ihm eine größere Zukunft als die von Ferrari-Zögling Charles Leclerc zugetraut. Mit Blick auf Hamilton neben sich spricht er von einer Ehre, aber der Landsmann dient auch als perspektivisches Beispiel, Stichwort Generationenduell. Norris sagt: "Ich will meine eigene Geschichte schreiben."