Ob sich Sergio Perez diese Szenen überhaupt richtig angeschaut hat? Vielleicht mit einem gaaanz langgezogenen Blinzeln, damit er möglichst wenig davon sehen musste und der Schmerz erträglicher wurde. Mit einem schwarzen, goldbestickten Sombrero auf dem Kopf saß schließlich nicht er auf dem geparkten Red Bull, sondern Max Verstappen. Auto und Fahrer wurden unter großem Applaus auf einer Plattform Richtung Himmel zum Sieger-Podium emporgehoben - während Perez auf dem Boden der Tatsachen blieb.
Der 33-Jährige hatte sich so viel vorgenommen für den Großen Preis von Mexiko, sein Heimrennen, die Fans feiern ihn hier wie einen Helden. Aber die Superkräfte verließen ihn an diesem Sonntag schon nach wenigen Metern auf dem Autodromo Hermanos Rodriguez. Das nächste Debakel in dieser für ihn so vermaledeiten Formel-1-Saison. Hinter Verstappen kamen Lewis Hamilton (Mercedes) und Charles Leclerc (Ferrari) ins Ziel, er ging leer aus. "Ich hatte schon einige wirklich traurige Momente in meiner Karriere. Das hier ist sicherlich der traurigste", sagte Perez. Seine große Fassungslosigkeit und Wut waren auch deutlich in seinem Blick zu sehen, als er sich vorzeitig in der Garage wiederfand. Er wirkte den Tränen sehr nah.
Im Kontrast dazu stand die Leistung seines Teamkollegen, der nach 71 Runden, mehreren Safety-Car-Phasen und einer Unterbrechung mit fast 14 Sekunden Vorsprung auf Hamilton brillierte. Verstappen hat nun als Erster in der Königsklasse 16 Siege in einer Saison gesammelt. Und weil es gleichzeitig der 51. seiner Karriere war, steht er in der ewigen Bestenliste ab sofort auf einer Stufe mit dem viermaligen Weltmeister Alain Prost. Öfter haben nur Wenige die Zielflagge als Erste gesehen: Sebastian Vettel (53), Michael Schumacher (91) und Lewis Hamilton (103). "Es ist wieder eine unglaubliche Saison gewesen. Ich meine, das Auto war an den meisten Orten unglaublich zu fahren", sagte Verstappen. Was er daran anschloss, war sicher nicht als Seitenhieb für den angeschlagenen Perez gemeint, könnte aber so verstanden werden: "Wenn man dann als Team wirklich gut zusammenarbeitet und versucht, über die gesamte Saison hinweg nicht zu viele Fehler zu machen, kann man so etwas erreichen."
Was wurde Perez diesmal zum Verhängnis? Im Kampf um die besten Plätze lenkte er auf der Außenbahn zu früh und zu stark nach innen ein. Dabei traf er Leclercs Ferrari und hob ab. Zunächst wirkte es gar, als könnte sich der Wagen noch überschlagen. Wenigstens das blieb Perez erspart, der Schaden aber war dennoch zu groß. "Ich hatte einen riesigen Start, die Lücke war da. Ich sah eine Gelegenheit und ich habe sie ergriffen", erklärte der von Platz fünf gestartete Perez. "Ich bin ein Risiko eingegangen und habe das teuer bezahlt. Aber wenn ich es geschafft hätte, wäre ich aus Kurve eins in Führung gegangen."
Red Bull will den Doppeltriumph - ist Perez dazu in der Lage?
Das Blöde für Perez ist, dass er in dieser Saison zu häufig Gelegenheiten ergreifen wollte und sie letztlich verpasste. Er gewann in Saudi-Arabien und Aserbaidschan, aber das ist lange her. Seit Monza, Anfang September, stand er nicht mehr auf dem Podium, obwohl er das stärkste Auto dieser Saison lenkt. Was damit möglich ist, beweist Verstappen. Dass Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko ein aussichtsreiches Manöver von Perez sah und von einem Unfall sprach, der nun mal passieren könne, dürfte kaum trösten. Ebenso wenig, dass ihn Teamchef Christian Horner demonstrativ unter Beobachtung einer Kamera aufmunternd am Kommandostand tätschelte und ihm gut zusprach.
Fast wie aus längst vergangener Zeit wirken die Erinnerungen an den Saisonbeginn. Als die Konkurrenz zwischen den beiden Red-Bull-Matadoren noch den Anschein machte, als würde der Formel 1 ein enger Zweikampf bevorstehen mit höchst explosivem Potenzial. Was sich bewahrheitet hat, ist die Überlegenheit des RB 19. Aber seit einem Upgrade nach etwa einem Saisondrittel tut sich Perez schwerer mit dem Auto, und das Kräfteverhältnis hat sich verschoben. Mochte Perez anfangs mit seinem Auftreten signalisiert haben, sich nicht länger unterordnen und auch mal den Titel holen zu wollen, minimiert er sich seine Chancen durch einen Fehler nach dem anderen.
Und die Kluft dieser Partnerschaft wurde umso deutlicher, je tadelloser Verstappen fuhr. In einem Interview mit dem Fachmagazin Auto, Motor und Sport sagte Perez über den Druck dieser Konstellation: "Das ist hart. Aber wenn du für Red Bull fahren willst, musst du damit leben und mental sehr stark sein, das zu überleben." Die Frage, ob ihm das in den Augen seiner Vorgesetzten gelingt, drängt sich immer mehr auf. Zuletzt hatte Horner den Mexikaner aufgefordert, seinen Kopf freizumachen - nun folgte der Crash in Mexiko, der Red Bull wertvolle 19 Punkte kostete. Perez kommt nun auf 240 Zähler, Verfolger Hamilton auf 220.
Das erklärte Ziel lautet nach Verstappens drittem Weltmeistertitel in Serie aber Doppeltriumph, es wäre der erste für das britisch-österreichische Team - und den soll Perez in den verbleibenden drei Grand Prix in São Paulo, Las Vegas und Abu Dhabi nicht gefährden. Der Druck ist hoch, auch wenn Marko erneut konstatierte: "Er hat seinen Vertrag für 2024 und das wird auch passieren." Und Horner bekräftigte: "So einfach ist das nicht. Man muss auf die Umstände schauen und so weiter."
Daniel Ricciardo brilliert beim Schwesterteam von Red Bull
Am Ende ist die Besetzung des Cockpits wohl auch eine Frage der Alternative. Ausgerechnet Verstappens früherer Teamkollege Daniel Ricciardo schob sich in der Startreihe unmittelbar vor Perez: Der Australier begann das Rennen im Alpha Tauri als Vierter und beendete es als Siebter - das beste Ergebnis dieser Saison. Damit verlässt das Schwesterteam von Red Bull das Tabellenende der Konstrukteurswertung und ist nun Achter, punktgleich mit Alfa Romeo.
So ein Sprung ist Millionen wert und findet Beachtung. "Unglaublich", lobte Marko bei Sky. "Er hat alles rausgeholt. Ein tolles Comeback nach der Handverletzung, und eine gute Empfehlung für die Zukunft." Horner fand: "Er hat komplett unterstrichen, warum wir ihn zurückgebracht haben. Er sah wieder aus wie der alte Daniel."
Das liefert Interpretationsstoff, nachdem die Bullen-Chefs zuletzt in dieser Causa auch mal mit ihrem Schweigen auffielen. Dass sich das Eskalationspotenzial zwischen Verstappen und Perez verflüchtigt hat, dürfte ihnen recht sein. Aber um die Konkurrenz fernzuhalten, sollten schon beide Autos verlässlich reüssieren. Und Sergio Perez hat seine Position und damit auch die des anspruchsvollen Teams wieder einmal geschwächt.