Es kommt höchst selten vor, dass sich Helmut Marko, der Motorsportberater von Red Bull Racing und Toto Wolff, der Teamchef von Mercedes, gegenseitig darin überbieten, den Formel-1-Rennfahrer Lewis Hamilton zu loben. Max Verstappen mag der Sieger beim Großen Preis der USA gewesen sein, aber Fahrer des Tages in Austin war sein britischer Vorgänger auf dem Weltmeisterthron. Ohne taktischen Fehler seines Teams hätte er wohl seinen 104. Grand-Prix-Sieg, den ersten seit November 2021 eingefahren - und nicht der Niederländer den 50. Erfolg seiner Karriere.
Wolff sprach nach dem zweiten Platz von einem "fantastischen Lewis", sein österreichischer Landsmann Marko bescheinigte Hamilton ein "sensationelles Rennen". Indes, das Comeback des Silberpfeils und seines Piloten war dreieinhalb Stunden nach dem 18. WM-Lauf nur noch Makulatur: Lewis Hamilton wurde ebenso disqualifiziert wie der Ferrari-Pilot Charles Leclerc. So schafft es die Formel 1, in der Auslaufphase einer weitgehend entschiedenen Saison zuerst für unerwartete Spannung zu sorgen - und gleichermaßen direkt im Anschluss für Unmut.
Formel 1 in Austin:Warum aufhören mit der Jagd?
Beim Großen Preis der USA setzt sich Weltmeister Max Verstappen durch. Mit seinem 15. Saisonsieg stellt er seine Bestmarke aus dem Vorjahr ein - und einen Punkterekord auf. Der Zweitplatzierte Lewis Hamilton wird nachträglich disqualifiziert.
An beiden Autos war der Abstand der Bodenplatte zur Fahrbahn nicht mehr hoch genug. Paragraph 3.5.9 e) des Technischen Reglements besagt, dass die Messplättchen aus Plastik oder Holz an den Aufhängungslöchern des Fahrzeugunterbodens vor Rennbeginn zehn Millimeter hoch sein müssen, die Abnutzung durch Bodenwellen oder Randsteine darf nach Rennende höchstens einen Millimeter betragen. Nachdem der saarländische Boxengassen-Kommissar Jo Bauer auf dem Circuit of the Americas in seiner höchst korrekten Art nachgemessen hatte, waren an den Autos von Hamilton und Leclerc nur noch weniger als neun Millimeter von den so genannten planks vorhanden. Der Vorfall erinnert an die Diskussionen um Michael Schumachers Benetton Mitte der Neunzigerjahre.
Eine unebene Strecke, ein zusätzliches Sprintrennen - doch auch die Erklärungen halfen nicht
Die Disqualifikation von Hamilton und Leclerc war auch deshalb unumgänglich, weil die beiden anderen kontrollierten Autos - der Red Bull von Max Verstappen und der McLaren von Lando Norris - innerhalb der tolerierten Grenzwerte geblieben waren. Sprich: die Sünder hatten ihre Fahrzeuge zu tief gelegt. Müßig dabei, ob es sich um eine Nachlässigkeit der Techniker oder um ein zu großes Risiko beim Set-up gehandelt hat. Je niedriger ein Formel-1-Auto abgestimmt wurde, desto schneller ist es, besagt eine Faustregel des Motorsports. Die auf dem Fuß folgende Ergebniskorrektur weist nun Norris als neuen Zweiten aus, auf den dritten Rang rückt Leclercs Ferrari-Kollege Carlos Sainz junior. Ärgerlich für Hamilton, der auch vom US-Publikum wie ein Sieger gefeiert worden war, dass auch sein Gegner um WM-Platz zwei, Sergio Perez, auf Rang vier hochgestuft wurde. Damit trennen die beiden statt ursprünglich 19 Punkte nun wieder 39 Zähler.
Die Verantwortlichen von Mercedes und Ferrari durften sich vor der Rennleitung rechtfertigen, und sie taten es unisono. Schuld an den zu flachen Autos sei eine "einzigartige Kombination" aus der unebenen Strecke und dem durch das zusätzliche Sprintrennen engen Wochenendzeitplan. Das habe sowohl die Abstimmung der Fahrzeuge als auch deren Kontrolle des Autos entscheidend minimiert. Da die Teamvertreter aber auch sofort die Korrektheit der Nachmessungen eingeräumt hatten, blieben die Kommissare hart. Es gebe keine Ausreden dafür, dass ein Fahrzeug nicht regelkonform an den Start geht. Dafür habe jedes Team Sorge zu tragen. Ein Abstimmungsfehler also.
Dabei hatten sie auf das wichtigste Teil hohen Wert gelegt: den Fahrzeugboden
Mercedes-Teamchef Wolff, der sich zuvor nur über die verpasste Siegchance mit dem schnellsten Auto des Tages geärgert hatte, musste einen neuerlichen Tiefschlag wegstecken. Nach Protest steht ihm nicht der Sinn: "Letzten Endes ist alles egal; andere haben es richtig gemacht, wo wir es falsch gemacht haben. Die Regeln erlauben da keinen Spielraum. Wir müssen die Niederlage hinnehmen und daraus lernen." Es scheint tatsächlich nicht das Jahr des deutsch-britischen Werksteams zu sein. Denn die neue Stärke des Silberpfeils basiert genau auf jenem monierten Teil, Mercedes hat für die letzten fünf Rennen noch einmal den Fahrzeugboden komplett überarbeitet. Das größte Teil am Formel-1-Auto ist auch des wichtigste, die Kanäle des Unterbodens definieren die Aerodynamik am ganzen Fahrzeug und deren Leistungsfähigkeit. Je tiefer, je mehr Bodenhaftung wird erzeugt, im Physikerjargon Abtrieb genannt.
Lewis Hamilton, der so glücklich über die Leistungsfähigkeit seines Mercedes war, und dem wohl nur zwei weitere Runden für seinen 104. Formel-1-Sieg gefehlt hatten, versuchte die späte und harte Ergebniskorrektur und den Fehler seines Rennstalls schon wieder in Motivation umzuwandeln: "Es ist natürlich enttäuschend, nach solch einem Rennen disqualifiziert zu werden, aber das schmälert nicht den Fortschritt, den wir an diesem Wochenende gemacht haben." Ganz so einfach wird es für den Briten nicht werden, innerhalb der Wochenfrist bis zum Grand Prix in Mexiko den Rückschlag wettzumachen. Als Trost bleibt ihm nur, sich erstmals seit langem wieder auf gleicher Höhe mit Red Bull befunden zu haben. Bis es zum jähen Rückschlag kam.
Der 38-Jährige gehört zu den sensiblen Rennfahrern, und er hatte beim Rennen zuvor in Katar eine Kollision mit seinem Teamkollegen George Russell verursacht, für die er sofort alle Schuld übernahm. Doch der Vorfall nagte tatsächlich an ihm: "Es war schwierig für mich, damit umzugehen, dass ich mein Team hängen gelassen habe." Wie so oft bewältigte er die mentale Krise mit einem Mantra: "Es geht nicht darum, wie tief man gefallen ist, sondern wie man wieder zurückkommt." Nach dem Aufschwung und dem folgenden Absturz von Austin hat die Devise neue Gültigkeit bekommen. Vielleicht hilft Hamilton dann ein Blick in den Spiegel. Auf seinem Rücken ist ein großes Kreuz tätowiert, umrandet von den Worten: "Ich wachse noch immer."