Norwegens drohendes EM-Aus:"Wir sind der HSV Europas"

Lesezeit: 4 min

EM-Quali: Die Fahne weht noch, aber die Mienen der norwegischen Spieler um Erling Haaland (Mitte) stehen auf halbmast. (Foto: Frederik Ringnes/dpa)

Nach dem 0:1 gegen Spanien muss Norwegens Sturmereignis Erling Haaland befürchten, das nächste große Turnier zu verpassen. Die Enttäuschung über das wahrscheinliche EM-Aus drängt einen Ex-Bundesliga-Profi zu einem wenig schmeichelhaften Vergleich.

Von Javier Cáceres, Berlin

Norwegen hat eine lange Fußballtradition. Doch am Sonntagabend kam den Nordmännern vor allem zugute, dass sie in Mathematik bewandert sind, seit Niels Henrik Abel (1802 bis 1829) in seinem kurzen Leben bewies, dass eine allgemeine Gleichung fünften Grades keinesfalls durch eine Formel gelöst werden kann, die nur Wurzeln und arithmetische Grundoperationen verwendet. Die Partie, die Norwegen im Ullevaal-Stadion von Oslo gegen Spanien 0:1 verlor, kehrte eine ganze Reihe an Formeln hervor, die den modernen Fußball so prägen.

Das Frappierendste am Sonntag war, dass die Norweger in absolut preisverdächtiger Schnelligkeit errechnet hatten, wie groß die Chancen sind, sich doch noch für die Europameisterschaft in Deutschland 2024 zu qualifizieren. Sie liegen bei "13 Prozent", posaunte die norwegischen Zeitung Aftenposten heraus - kaum, dass die Partie vorüber war. Auch ihr Optimismus war anerkennenswert, denn sie hätte es auch - pure Arithmetik - anders ausdrücken können: Martin Ödegaard (FC Arsenal) und Erling Braut Haaland (Manchester City), die zum Aufregendsten gehören, was der internationale Fußball aktuell bereithält, haben nun eine 87-prozentige Gewissheit, nach der EM 2021 und der WM 2022 auch das nächste große Turnier zu verpassen.

Fjörtoft spricht über Haaland
:"Wir haben von seinem Talent gewusst"

Der Norweger Jan Aage Fjörtoft spricht über Dortmunds Juwel Erling Haaland - und erklärt, warum er die Wahl für den BVB "typisch Team Haaland" findet.

Interview von Javier Cáceres

Ödegaard hatte das am Ende der Partie nicht vollumfänglich überrissen: "Ich weiß wirklich nicht, wie die Lage ist", stöhnte er. Das aber war nicht weiter beschämend; es gibt Allgemeine Geschäftsbedingungen für Onlinekäufe, die sich verständlicher lesen als die verschlungenen Wege, die zur EM führen.

Okay, dass die direkte Qualifikation in der Gruppe A ausgeschlossen ist, weil neben den Spaniern auch die spielfreien Schotten nicht mehr von den ersten beiden Tabellenplätzen verdrängt werden können, ist von alttestamentarischer Klarheit. Dann aber wird es kompliziert: Norwegen kommt im nächsten Sommer nur dann in den Genuss einer EM-Reise nach Deutschland, wenn sich mindestens 16 der 22 Mannschaften, die in der Nations-League-Rangliste vorne stehen, direkt für die EM qualifizieren. Oder aber: wenn mindestens vier der sieben Mannschaften, die aktuell in der Nations-League-Staffel B vor Norwegen liegen, das Ticket lösen. Capito? Nicht so schlimm, bis zur Auslosung im Dezember ist noch Zeit.

Mathematisch ist Norwegens Qualifikation noch möglich. Aber die Rechnung ist kompliziert

Doch nicht nur wegen der kuriosen Berechnungsmodelle etwaiger Qualifikationsszenarien war der Abend dazu angetan, sich gute alte Zeiten zurückzuwünschen. Sondern auch wegen der entscheidenden Spielsequenzen.

Die Partie war einerseits geprägt von der erdrückenden Kontrolle durch die spanischen Gäste, andererseits davon, dass ein Mann in kreischend gelbem Jersey die Kameraobjektive auf sich zog: der deutsche Schiedsrichter Tobias Stieler, der im Brennpunkt stand, wenn der Videoschiedsrichter eingreifen musste.

Im Brennpunkt: der deutsche Schiedsrichter Tobias Stieler, der hier Álvaro Morata (links) erklärt, warum dessen Treffer nicht zählt. (Foto: Vegard Grött/Bildbyran/Imago)

In der ersten Halbzeit war das der Fall, als der norwegische Abwehrspieler Stefan Strandberg den Ball bei einem verzweifelten Abwehrversuch an seinem eigenen Torwart vorbeigespitzelt hatte - und Spaniens Torjäger Álvaro Morata sich nicht davon abhalten ließ, dem Ball vor der Torlinie noch einen unnötigen Stups zu verpassen. Aus einer passiven Abseitsstellung Moratas wurde eine aktive. Zu den kuriosen Begleitumständen zählte, dass Spaniens überragender defensiver Mittelfeldspieler Rodri die Tragweite der Aktion Moratas sofort erkannte - und den Stürmer instinktiv in den Senkel stellte. Rodri wusste, dass das Tor aberkannt werden würde. Referee Stieler brauchte für die Annullierung die Krücke VAR.

Die Szene, die in der 49. Minute zum Siegtor der Spanier durch Gavi führte, musste auch per VAR validiert werden. Sie war aber ungleich komplexer. Es galt, drei mögliche Abseitsstellungen zu prüfen, die Auswirkung des Ein- und Ausfallwinkels des Balles auf das Sichtfeld des Torwarts zu bewerten und gegen die Unterparagrafen des Gesetzeswerks des Fußballs bei passiven Abseitsstellungen zu schneiden. Nach vier (!) Minuten kam der VAR zum Entscheid: Tor! Und stürzte "ganz Norwegen in eine Riesenenttäuschung", wie der frühere Bundesliga-Profi Kjetil Rekdal am Montag am Telefon berichtete.

SZ PlusDebütanten im DFB-Team
:Auf der Jagd nach dem Odonkor-Moment

Die Neulinge Behrens, Führich und Andrich hat Bundestrainer Julian Nagelsmann auf die US-Reise mitgenommen. Er verfolgt damit nicht nur einen taktischen Plan, sondern auch einen atmosphärischen.

Von Thomas Hürner

Natürlich werde in den norwegischen Medien über Stale Solbakken geredet, der seinen Vertrag als norwegischer Nationaltrainer erst vor wenigen Monaten verlängert hat - und damit womöglich: zu früh. "Doch dieser Reflex greift viel zu kurz, man kann das nicht an einer einzigen Person festmachen", sagt Rekdal. Am Sonntag habe Norwegen gegen gute Spanier nicht gut agiert, erst zur 65. Minute eine Chance gehabt, derlei könne schon mal passieren. Dass der ehemalige Kölner Trainer Solbakken am Sonntag sagte, man habe "die direkte Qualifikation nicht heute verpasst", sekundierte der Ex-Herthaner Rekdal anderntags voll und ganz. Rekdal rief in Erinnerung, dass Norwegen in Spanien das Spiel kontrolliert und doch 0:3 verloren habe, gegen Schottland im Juni in den letzten drei Minuten eine Führung aus der Hand gab und 1:2 verlor - und in Georgien im März ebenfalls ein 1:0 nicht halten konnte. "Wenn es darauf ankommt, sind wir nicht da", sagt Rekdal.

Norwegen befinde sich "auf einer Stufe mit San Marino, Liechtenstein oder Andorra", sagt Kjetil Rekdal

Das sei für die Norweger umso betrüblicher, als sie die beste Generation seit Jahrzehnten beieinanderhaben. "Unser Fußball hat insgesamt einen Sprung gemacht. Das sieht man nicht nur an Haaland und Ödegaard, sondern auch daran, dass wir jetzt Spieler beim FC Sevilla, dem SSC Neapel, dem FC Burnley, Brighton & Hove Albion, Borussia Dortmund oder Ajax Amsterdam haben und mit den Nachwuchsmannschaften gute Erfolge erzielen", erklärt Rekdal. Und dennoch scheitert Norwegen regelmäßig. "Wir sind der HSV Europas", sagt Rekdal gar, weil die Norweger so regelmäßig die Qualifikation für große Turniere vermasseln wie der Hamburger SV die Rückkehr in die Bundesliga.

Norwegen sei "hinter Länder wie Finnland, Nordmazedonien und Albanien" zurückgefallen und nach Ergebnissen "eher auf einer Stufe mit San Marino, Liechtenstein oder Andorra", hadert Rekdal. Vielleicht müsse man den "deutschen Weg" gehen, sagt Rekdal, und zusammen mit Schweden und Dänemark ein großes Turnier organisieren. Denn dann wäre Norwegen - wie Deutschland für 2024 - automatisch qualifiziert.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSpaniens Thiago
:"Ich hasse den modernen Fußball"

Der frühere FC-Bayern-Profi und spanische Lenker Thiago erklärt das Für und Wider der vielen Einflüsse auf das Spiel: durch kluge Trainer, die Vermengung von Kulturen und fleißige Talente.

Interview von Javier Cáceres

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: