Bastei, Sächsische Schweiz
Als die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm Anfang des 19. Jahrhunderts aus ganz Deutschland Märchen und Sagen zusammentrugen, gab es noch keine Kameras, geschweige denn digitale Farbfotografie. Dabei hätten die beiden studierten Volkskundler wohl nur allzu gern die stimmungsvollen Orte verewigt, um die sich so viele Geschichten und Legenden ranken. Das hat nun der Fotograf Kilian Schönberger nachgeholt. Ein Jahr lang ist der Oberpfälzer von der Ostsee bis in die Alpen, von der Eifel bis in den Spreewald gereist und hat fabelhafte Orte besucht. Orte, die die Menschen über viele Generationen hinweg verzaubert, geängstigt und inspiriert haben - und die jetzt in einem Reisebildband erschienen sind. Mit dabei sind die Bastei-Felsen in der Sächsischen Schweiz: Die hohen Felstürme ragen über den Morgennebel. Hier soll einst der trunksüchtige Ritter Kunz in den Wehlgrund gestürzt sein, dessen Geist angeblich noch immer zwischen den Steilwänden der Kleinen Gans und der Felsenburg Neurathen spukt.
Kahleberg bei Altenberg, Erzgebirge
Die Fülle und Bandbreite der deutschen Sagenorte beeindruckt. Jede Landschaft hat ihre eigenen Legenden, ihre Mythen und Geister: die Klabautermänner am Meer, die Riesen im Harz, die Ungeheuer der bayerischen Seen. Wie eine magische Parallelwelt überzieht das Netz der Sagen jenseits der Großstädte und Straßen das Land. Wer einen Fußmarsch und ab und an ein wenig Klettern nicht scheut, findet in jeder Region Orte wie den Kahleberg im Erzgebirge. Wenn Sie dort den Kopf drehen, entecken Sie womöglich ein Moosmännchen. Diese kleinen Gestalten, deren Gesichter ganz mit Moos überzogen sind, sollen hier die Holzarbeiter in die Irre geführt haben. Ihr Trick: Sie sind nur zu erkennen, wenn man zur Seite blickt.
Spreewald, Brandenburg
So führen die Sagen und Geschichten unserer Vorfahren nicht nur an wahrlich bezaubernde Orte, sondern auch mitten hinein in das Denken und Erleben weit vor dem Smartphone, vor Wikipedia und Physikunterricht. Die Mythen und Legenden geben Einblick in die Zeiten, in denen die Menschen der Welt mit Magie und fantastischen Elementen Sinn gaben. Die wilde Auen- und Moorlandschaft des Spreewalds war ein besonders reicher Nährboden für zahlreiche sorbische Sagen. Nicht nur der mächtige Wendenkönig soll hier eine Heimat gefunden haben, auch die Lutki und Bludniki, hilfreiche kleine Geister und Elfen, sind in der Region zuhause.
Gartzer Schrey, Uckermark
Immer wieder wurden um historische Ereignisse über Generationen hinweg Sagengeschichten gesponnen. Das Waldgebiet Gartzer Schrey in der Uckermark hat seinen Namen einer Schlacht des Dreißigjährigen Krieges zu verdanken: Als die Kaiserlichen von den Schweden hier in die nahe Oder getrieben wurden, sollen diese so laut geschrien haben, dass sie bis nach Gartz zu hören waren.
Burg Kriebstein, Sachsen
Eine Geschichte von starken, schlauen Frauen rankt sich um die Ritterburg Kriebstein, die hoch auf einem Felssporn über der Zschopau thront: Nachdem Ritter Dietrich von Staupitz die Burg eingenommen hatte, belagerte Markgraf Friedrich der Streitbare die Festung. Nach einiger Zeit bat die Gemahlin von Ritter Staupitz den Markgrafen, ob die Frauen mit dem Kostbarsten, das sie tragen könnten, die Burg verlassen dürften. Der Markgraf willigte ein und staunte nicht schlecht, als die Frauen nicht Schmuck und Schuhe, sondern huckepack ihre Männer davon schleppten. Friedrich der Streitbare war beeindruckt von so viel weiblicher Finesse - und begnadigte Ritter Dietrich.
Leistenklippe am Hohnekamm, Harz
Weniger Glück hatten die hartherzigen Jungfrauen von den Leistenklippen am Hohnekamm. Das Trio soll jeden Verehrer abgewiesen haben, sodass es selbst zu Stein wurde. Immerhin haben die versteinerten Damen eine gute Aussicht auf den Brocken, hinter dem die Sonne hervor strahlt. Immer wieder beweisen die Aufnahmen von Schönberger, dass Sagen ein guter Wegweiser zu lohnenden Fotomotiven sind. Das besondere Licht und die spektakulären Naturphänomene, die unsere Ahnen an Geister, Zwerge und Riesen denken ließen, sorgen heute noch für eine magische Stimmung.
Hexenwald bei Lietzow, Rügen
Auch wer die mittlerweile naturwissenschaftlich erforschten Hintergründe eines Naturphänomens kennt, wird sich von den Sagen gern verzaubern lassen. Erlauben diese doch den Blick auf eine andere Wahrheit, auf die erlebte Magie eines Ortes, auf seine verwunschene Schönheit. So weiß man inzwischen, dass die Krüppelbuchen im Hexenwald bei Lietzow auf Rügen ihren knorrig-gebückten Wuchs einer seltenen genetischen Mutation verdanken. Und doch kann man sich nur allzu gut vorstellen, dass auf der nächsten Lichtung das Knusperhäuschen steht.
Wegelnburg, Pfälzerwald
70 000 Autokilometer hat Schöneberger in einem Jahr zurückgelegt, um die 200 Motive zu fotografieren. Hinzu kamen zahlreiche Wanderungen, denn viele Sagenorte sind nur zu Fuß zu erreichen. Besonders anstrengend ist der Aufstieg zur Wegelnburg bei Nothweiler, immerhin handelt es sich um die höchste Burg der Pfalz. Dem Volksmund nach soll darunter die schöne und unermesslich reiche Prinzessin Hirlanda schlummern und aufs Wachküssen warten.
Blautopf bei Blaubeuren, Baden-Württemberg
"Zuunterst auf dem Grund saß ehmals eine Wasserfrau mit langen fließenden Haaren. Ihr Leib war allenthalben wie eines schönen, natürlichen Weibs, dies eine ausgenommen, daß sie zwischen den Fingern und Zehen eine Schimmhaut hatte, blühweiß und zärter als ein Blatt vom Mohn." So schrieb Eduard Mörike über eine der vielen Blautopf-Sagen. Die schöne Lau - Tochter einer Menschenfrau und eines Wassernixen - wurde von ihrem Gemahl, dem Donaunix, in den Blautopf verbannt, da sie nicht lachen konnte und nur tote Kinder gebar. Zumindest hatte die bedauernswerte Halbnixe ein Schwimmbecken mit geheimen Rückzugsräumen: An den Blautopf schließt sich ein gigantisches Höhlensystem an.
Benediktenwand, Oberbayern
Das Blaue Land wird die Region um Murnau genannt. Die Landschaft inspirierte Maler wie Wassily Kandinsky und Franz Marc und brachte zahlreiche Sagen und Legenden hervor. Einer zufolge ruht die 1800 Meter hohe Benediktenwand auf vier goldenen Säulen und birgt im Inneren unermessliche Schätze.
Zugspitze
Natürlich gebührt auch Deutschlands höchstem Berg, der Zugspitze, eine eigene Legende: Vor Urzeiten soll ein Zuggeist auf dem Gipfel eine Springwurzel bewacht haben, die ewigen Reichtum versprach. Wer sich auf die Suche nach dieser machte, musste sterben.
Felsvorsprung Bieley über dem Perlenbachtal, Eifel
Nicht die Loreley, sondern die Bieley eröffnet hier einen märchenhaften Ausblick auf das Perlenbachtal nahe der deutsch-belgischen Grenze. Von dem Felsvorsprung lässt sich bestens Ausschau halten nach all den Riesen, Zwergen und Hexen, die einst in der Eifel vermutet wurden. Wird kein überirdisches Wesen erspäht, tröstet die wilde, unverbaute Natur über die Enttäuschung hinweg. Doch immer wieder musste Fotograf Kilian Schönberger auf seiner Sagentour durch Deutschland feststellen, dass Geländer, breite Fußwege, Windräder oder großformatige Hinweistafeln den Zauber eines Fotomotivs zerstörten. "Aus Naturorten waren kleine Freizeitparks geworden", bedauert Schönberger. Er ruft dazu auf, "freie Aussichten" zu erhalten, damit auch nachfolgende Generationen "Landschaftsweite und Abgeschiedenheit" erleben können - und vielleicht das eine oder andere Fabelwesen erspähen.
"Teufelsbrücke" im Landschaftspark Kromlau, Oberlausitz
Jeden Moment könnte ein spitzohriger Wald-Elb ins Bild treten. Doch auch wenn dieser kunstvolle Brückenbogen wunderbar zu Tolkiens Mittelerde passt, die Rakotzbrücke können Besucher im Landschaftspark Kromlau in der Oberlausitz bewundern. Im Volksmund hat sich der Name "Teufelsbrücke" durchgesetzt - wie sonst hätte ein Brückenbauer solch ein rundes Meisterwerk zustande bringen können? Alle Fotos aus dem Reisebildband "Sagenhaftes Deutschland", der im November 2015 beim Frederking & Thaler Verlag erschienen ist.