Europa:Auf schmalem Grat in eine zweite Amtszeit

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Zentrale Teile ihrer Klimapolitik hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerade öffentlichkeitswirksam geopfert. (Foto: John Thys/AFP)

Ursula von der Leyen will auch nach der Europawahl Präsidentin der EU-Kommission bleiben. Ihr Klimaprogramm für 2040 und ihre Zugeständnisse an die Bauern sprechen eine deutliche Sprache: Sie versucht, es allen recht zu machen.

Von Jan Diesteldorf, Straßburg

Dort, wo Ursula von der Leyen am Dienstag einmal wieder alle überraschte, machten am Anfang neun Stimmen den Unterschied. 383 Abgeordnete votierten für die Kommissionspräsidentin, als sie im Juli 2019 im Straßburger EU-Parlament zur Wahl stand, eine hauchdünne Mehrheit, getragen von der christdemokratischen EVP, den europäischen Sozialdemokraten und den liberalen Parlamentariern der Renew-Fraktion. Damals ritt sie auf einer grünen Welle ins Kommissionsgebäude am Schuman-Kreisel in Brüssel ein. "Fridays for Future" demonstrierte auf den Straßen, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) umarmte Bäume, und in der Kommission schrieben die Beamten am Grünen Deal, dem EU-Klimaschutzprogramm, das von der Leyens Markenkern werden sollte.

Andere Zeiten. Am Dienstag in Straßburg wurde so verdichtet deutlich wie noch nie seit ihrem Amtsantritt, wie der veränderte Zeitgeist Politik und Kommunikation der Brüsseler Schaltzentrale erfasst hat. Wie von der Leyen auf innere und äußere Zwänge reagiert und alles, was jetzt noch gesagt und geschrieben wird, im Zeichen des bevorstehenden Wahlkampfs steht. Heute versperren Traktoren die Straßen, machen rechte Parteien und konservative Kräfte Stimmung gegen alles Grüne, muss von der Leyen ihre Parteienfamilie zurückgewinnen, die sich zuletzt von ihr entfremdet hatte. Will sie ihre Arbeit weitere fünf Jahre fortsetzen, was sie wohl demnächst bestätigen wird, werden die kommenden Monate eine Wanderung auf schmalem Grat.

Klare Signale an die Traktordemonstranten

Die ersten Schritte darauf hat sie schon gewagt. Am Dienstag warf sie erst einmal öffentlichkeitswirksam das geplante Gesetz zur Verringerung des Pestizideinsatzes in den Papierkorb. Es hätte Bauern verpflichtet, wesentlich weniger Pflanzenschutzmittel auf ihren Äckern zu versprühen, und war ein zentraler Bestandteil des Grünen Deals. Im November scheiterte es im Parlament. Dass die Kommission den Vorschlag komplett zurückzieht, so wie es von der Leyen am Dienstag ankündigte, überraschte dennoch viele. So etwas kommt selten vor. Und es ist eines von vielen klaren Signalen an die Traktordemonstranten.

"Uns allen ist klar, dass unsere Agrar- und Ernährungsbranche - beginnend mit den landwirtschaftlichen Betrieben - langfristige Perspektiven braucht", sagte von der Leyen in ihrer Rede am Dienstagmorgen. Man müsse einander zuhören, gemeinsame Lösungen suchen. Und: "Wir müssen Schuldzuweisungen vermeiden." So klingt eine Kommissionspräsidentin, der ihre Partei einiges abverlangt hat, damit diese sie in ihrem Streben nach einer zweiten Amtszeit unterstützt. Und die nun etwas nachholen will. Denn bei aller grünen Gesetzgebung, die detailliert Klima- und Umweltschutzvorgaben in einzelnen Sektoren festlegt, habe man zu wenig mit denjenigen geredet, die davon direkt betroffen sind, so ist es in ihrem Umfeld zu hören.

Deshalb die "strategischen Dialoge" mit Vertretern der Landwirtschaft und der Industrie. Und eine Sprache, die auffällig betont, dass Klimaschutz sozialverträglich sein muss, dass der Agrar- und Industriesektor "agil und stark" sein müssen in einer "global wettbewerbsfähigen und zunehmend nachhaltigen Wirtschaft".

Grüne und Sozialdemokraten äußern sich enttäuscht

Nachzulesen sind solche Sätze in den ebenfalls am Dienstag vorgestellten EU-Klimaplänen für das Jahr 2040. Demnach soll der Ausstoß von Treibhausgasen insgesamt um 90 Prozent verglichen mit 1990 sinken. Kommuniqué, Begleitmaterialien und die mehr als 600 Seiten lange Folgenabschätzung sind doppelt bemerkenswert. Erstens, weil sie inhaltlich einen Rahmen für die EU-Wirtschafts- und Industriepolitik der kommenden Jahre vorwegnehmen. Und zweitens, weil sie davon zeugen, dass es von der Leyen vor der anstehenden Wahlkampagne möglichst allen recht machen will.

Etwa der EVP, der es ganz recht gewesen wäre, wenn die Kommission vor der Wahl überhaupt kein 2040er-Ziel mehr ausgegeben hätte. Den Staats- und Regierungschefs, die sich eine Regulierungspause wünschen. Und den Landwirten, die nun kein konkretes Emissionsziel für den Agrarbereich mehr in den Unterlagen finden, weil das die Stimmung in den Gesprächen mit den EU-Spitzen nicht unbedingt verbessert hätte.

Auf der anderen Seite stehen die Grünen und die Sozialdemokraten, die Umweltschützer und jene Teile der Kommission, denen die bisherigen Klimaschutz-Bemühungen nicht weit genug gehen. Das jetzt vorgestellte Klimaziel gilt vielen als die Untergrenze dessen, "was die Wissenschaft als notwendigen und möglichen Beitrag der EU im Kampf gegen die Klimakrise identifiziert hat", so formuliert das etwa Delara Burkhardt, die umweltpolitische Sprecherin der SPD im EU-Parlament.

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Keine Rücksicht mehr nehmen muss die Kommission dabei auf ihren ehemaligen Vizepräsidenten Frans Timmermans. Der Sozialdemokrat aus den Niederlanden, Wahlverlierer gegen EVP-Chef Manfred Weber als Spitzenkandidat bei der letzten Europawahl und verantwortlich für den Grünen Deal, hat sich vor der niederländischen Parlamentswahl im Sommer aus der Kommission zurückgezogen, um fortan wieder nationale Politik zu machen. Heute wird er als Besserwisser dargestellt, der beim Schreiben der Gesetze zu wenig den Sound der Straße gehört habe. Er habe die Generaldirektion Klima der Kommission mit "vielen, vielen Leuten" besetzt, "die an Instrumenten arbeiten, um Europäer, europäische Landwirte, die europäische Industrie und so weiter zu foltern", sagte Peter Liese, der umweltpolitische Sprecher der EVP.

Da die EVP wohl die Wahlen gewinnt, spricht alles dafür, dass von der Leyen im kommenden Juli wieder im Straßburger Parlament stehen wird und auf die nötige Anzahl der Stimmen hofft. Sie muss mehr als die Hälfte der 720 Abgeordneten überzeugen. Mit absehbar erstarkten Rechten und schwächeren Liberalen könnte das wieder sehr knapp ausgehen. Aber dass sie politisch gut balancieren kann, hat von der Leyen in den vergangenen Jahren bewiesen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Ursula von der Leyen sei im November 2019 ins Amt gewählt worden. Tatsächlich wurde sie im Juli 2019 gewählt und sollte ihr Amt im November antreten, was sich bis Dezember verzögerte. Wir haben den Fehler korrigiert.

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