Abschied von der EU:Timmermans strebt an die Macht in den Niederlanden

Lesezeit: 2 min

Bisher die Nr. 2 in der EU-Kommission: Der Niederländer Frans Timmermans will jetzt Ministerpräsident werden. (Foto: Julien Warnand/AP)

Der Architekt der europäischen Klimapolitik und Vizechef der Kommission gilt vielen seiner Gegner als Hassfigur. Nun will er in seiner Heimat Premier werden und dort versöhnen.

Von Josef Kelnberger und Thomas Kirchner, Brüssel/Paris

Frans Timmermans, der Architekt der europäischen Klimapolitik, will niederländischer Regierungschef werden. Am Donnerstag informierte der Niederländer die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von seinem Abschied aus Brüssel. Er strebt die Spitzenkandidatur der Allianz von Sozialdemokraten und Grünen bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 22. November an und wird diese aller Voraussicht nach auch erhalten. Von der Leyen muss nun die Zuständigkeit für den "Grünen Deal", das zentrale Projekt ihrer Amtszeit, bis zu den Europawahlen im Juni nächsten Jahres neu ordnen.

Timmermans ist als geschäftsführender Vizepräsident und Kommissar für Klimaschutz die Nummer zwei in der Kommission. Er war bei den Europawahlen 2019 als Spitzenkandidat für die Sozialdemokraten angetreten und auf Platz zwei hinter dem EVP-Mann Manfred Weber gelandet. Weil Weber für die Staats- und Regierungschefs als Kommissionspräsident nicht infrage kam, konnte sich Timmermans für kurze Zeit selbst Hoffnungen machen. Dann jedoch fiel die Wahl auf Ursula von der Leyen. Entschädigt wurde der Niederländer als Vize mit großer Machtfülle, die er selbstbewusst nutzte. Kritiker werfen ihm vor: zu selbstbewusst.

Timmermans brachte ein gigantisches Gesetzespaket unter dem Motto "Fit for 55" auf den Weg. Das Ziel: Die EU soll ihre CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 vermindern, als Etappenziel auf dem Weg zur Klimaneutralität 2050. Die wichtigsten Projekte, etwa die Reform des Emissionshandels oder die Einführung eines Klimazolls, sind bereits beschlossen. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine sieht er sich aber zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei ein Umwelt-Ideologe, der Wirtschaft und Gesellschaft überfordere und sogar Hungersnöte in Kauf nehme. Für Christdemokraten und Rechte im Parlament wurde er zum Feindbild.

Er spricht sechs Sprachen, darunter Russisch und lupenreines Oxford-English

Er handle aus Verantwortung für die nachfolgenden Generationen, argumentierte Timmermans stets. Diese Überzeugung kombiniert er mit beachtlichem Machtinstinkt. Einen spektakulären Sieg feierte er vergangene Woche im Ringen um das "Gesetz zur Wiederherstellung der Natur". Eine von Manfred Weber geführte rechte Allianz wollte das Projekt im Parlament stoppen, weil es die Landwirtschaft in Europa überfordere, doch Timmermans konnte eine Mehrheit hinter sich bringen.

In den Niederlanden dürfte Frans Timmermans, davon gehen alle Beobachter in Den Haag aus, tatsächlich Spitzenkandidat werden. Aus allen Parteien der linksgrünen Allianz gab es sofort großen Zuspruch. In einer aktuellen Umfrage erklärten 39 Prozent der Befragten, der Sozialdemokrat wäre ein "vertrauenswürdiger Premier". Timmermans sagte am Donnerstag in einer Videobotschaft, er wolle alles dafür tun, die Niederlande mit sich selbst zu versöhnen. Das Land müsse "zusammenwachsen statt auseinander wachsen". Gesucht wird die Nachfolge von Mark Rutte, dessen Mitte-Rechts-Koalition zerbrochen ist.

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Timmermans gilt einerseits als idealer Kandidat. Er ist bekannt, aber seit Langem raus aus der heimatlichen Politik, was als Vorteil gilt. Bevor er nach Brüssel ging, war er ein beliebter Außenminister. Besonders in Erinnerung bleibt sein emotionaler Auftritt im UN-Sicherheitsrat nach dem Abschuss der Maschine des Flugs MH17 über der Ukraine 2014. Timmermans ist ein überzeugter Europäer und Anti-Nationalist, er gilt als Intellektueller, der scheinbar alle wichtigen Bücher gelesen, Filme und Serien gesehen hat, als einer, der über fast jedes Thema witzig und charmant reden kann.

Der 62-Jährige spricht fließend sechs Sprachen: lupenreines Oxford-English, Französisch, Italienisch, Deutsch, Russisch, Niederländisch. Wer mag, kann noch den heimatlichen Limburger Dialekt hinzuzählen. Was auch für Timmermans spricht: Unter seiner Führung holten die Sozialdemokraten in den Niederlanden den einzigen Erfolg der vergangenen Jahre, den Sieg bei der Europawahl 2019.

Trotz seiner Vorzüge ist Frans Timmermans durchaus umstritten in der Heimat. Den Rechten gilt er als Hassfigur, als Heuchler, als Streber. In konservativen Medien oder auf Twitter macht man sich seit Jahren lustig über seine demonstrative Internationalität und die Beflissenheit, mit der er jederzeit das Richtige und Gute tun wolle. Auch in Teilen der Mitte und weiter links wird Timmermans' EU-Begeisterung nicht geteilt. Zudem wird ihm nachgesagt, auf harte persönliche Kritik sehr empfindlich zu reagieren.

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