Energiekrise:Neuer Konflikt um Atomenergie in der Koalition

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Soll bis April 2023 in Reserve gehalte werden: Das Atomkraftwerk Isar 2 nahe Landshut. (Foto: Armin Weigel/dpa)

Wirtschaftsminister Habeck will zwei süddeutsche Atommeiler bis längstens April 2023 als Notreserve behalten. FDP-Chef Lindner fordert den Weiterbetrieb von drei Kraftwerken - bis mindestens 2024.

Von Michael Bauchmüller, Daniel Brössler, Constanze von Bullion, Henrike Roßbach und Mike Szymanski

Keine vier Monate vor dem planmäßigen Aus der letzten drei deutschen Atomkraftwerke steuert die Koalition auf einen massiven Konflikt um die Atomenergie zu. FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner fordert den Weiterbetrieb aller drei AKWs bis mindestens 2024 - während Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) Atomkraft allenfalls bis April kommenden Jahres nutzen will, und auch das nur als Notreserve. "In diesen Zeiten sollten alle Möglichkeiten genutzt werden, den Strompreis für die Menschen und die Betriebe zu reduzieren", sagte Lindner am Montag der Süddeutschen Zeitung. "Das ist aus meiner Sicht ein wirtschaftspolitischer Stresstest, der neben dem energiepolitischen Stresstest auch eine Rolle spielen muss", betonte er.

Habeck dagegen stellte am Montagabend das Ergebnis eines Stresstests vor, der sich vor allem möglichen Engpässen im Stromnetz gewidmet hatte. Demnach reiche es, nur die beiden süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim bis zum Frühjahr in Reserve zu halten, um sie in kritischen Situationen ans Netz zu nehmen. Das niedersächsische AKW Emsland dagegen könne wie geplant abgeschaltet werden. "Das deutsche Stromsystem erweist sich als sehr robust", sagte Habeck. Allerdings sei nicht auszuschließen, dass die beiden süddeutschen Reaktoren an heiklen Tagen einen "Beitrag leisten" könnten. "Die für mich richtige Konsequenz ist, dass wir uns diese Option erhalten", sagte Habeck. Eine Verlängerung von Laufzeiten schloss er aus.

Für den Stresstest hatten die vier Betreiber der Stromnetze Berechnungen für drei verschiedene Szenarien vorgelegt, darunter auch ein Extremszenario. In allen drei Szenarien sei die Lage angespannt. In einigen Stunden des Jahres drohten ernsthafte Engpässe. Allerdings gebe es auch eine Reihe von Möglichkeiten, damit umzugehen. Die Verfügbarkeit der drei Atomkraftwerke sei hier "ein Baustein zur Beherrschung kritischer Situationen", urteilten die Netzbetreiber.

Schon jetzt gibt es die Möglichkeit, ältere Kraftwerke in eine Reserve zu überführen, um sie in Krisenzeiten ans Netz zu nehmen. Bisher geht das aber nur für Kohle- oder Gaskraftwerke. Bei Atomkraftwerken dagegen schreibt das Atomgesetz für die drei verbliebenen Reaktoren das Ende des "Leistungsbetriebs" zum 31. Dezember vor. Befristet bis Mitte April und "zur Abwehr einer konkreten Gefahr für die Versorgungssicherheit" soll nun eine Art Notfallbetrieb möglich werden. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne), die für die Reaktorsicherheit zuständig ist, begrüßte den Vorschlag. "Damit wird die Laufzeit der Atomkraftwerke nicht verlängert", sagte sie. Zugleich schaffe der Vorschlag Vorsorge "für ein Worst-Case-Szenario".

Über die konkreten Schlussfolgerungen muss nun die Bundesregierung entscheiden - und hier dräut Streit. "Wir sollten nicht zu wählerisch sein, sondern alles ermöglichen, was uns physikalisch und ökonomisch das Leben leichter macht", fordert etwa FDP-Chef Lindner. Habeck dagegen spricht von einem sorgfältig abgewogenen Vorschlag, "unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Atomkraft kein Spielzeug ist". Für alles andere seien "Wahlkämpfe zuständig".

Und auch Habecks Partei will keinen Spaltbreit vom Atomausstieg abrücken. Noch in dieser Woche will der Bundesvorstand der Grünen einen entsprechenden Dringlichkeitsantrag für den Grünen-Parteitag im Herbst einbringen, hieß es am Montag aus der Parteizentrale. "Die tatsächliche Nutzung der Einsatzreserve ist Ultima Ratio. Die Ampel wird alles in Bewegung setzen, um die Netzsicherheit auf anderem Wege zu garantieren", sagte Grünen-Chefin Ricarda Lang der SZ. "Es wird keine Laufzeitverlängerung, keine neuen Brennstäbe geben. An der Entscheidung zum Atomausstieg halten wir fest."

Kritik von Umweltverbänden

Ähnlich klingt das aus der SPD. Alle Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie seien "unverändert richtig", betonte SPD-Chefin Saskia Esken nach Beratungen der Parteispitze. Die SPD sei aber bereit, die letzten Meiler zeitlich begrenzt am Netz laufen zu lassen, sollte sich dies als notwendig herausstellen. Ein Streckbetrieb, "der nur über wenige Wochen und Monate gehen würde zur Sicherung der Versorgungssicherheit, dem haben wir zugestimmt".

Lindner dagegen warnte seine Koalitionspartner davor, einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zu ignorieren. "Wir müssen auch erkennen, dass in der Bevölkerung eine ganz große Mehrheit inzwischen der Meinung ist, dass übergangsweise die Kernenergie einen wichtigen Beitrag leistet. Die Menschen haben Sorgen", sagte Lindner. "Unsere Städte sind jetzt schon dunkel. Gleichzeitig wird uns gesagt, wir hätten kein Stromproblem. Das leuchtet mir nicht ein", kritisierte er.

Kritik an Habecks Entscheidung kommt auch von den Umweltverbänden - aber aus ganz anderen Gründen. Sie werfen Habeck vor, eine Rückkehr zur Atomkraft vorzubereiten. "Ausgerechnet der grüne Bundeswirtschaftsminister kündigt einen hart errungenen gesellschaftlichen Konsens auf", sagte Greenpeace-Chef Martin Kaiser. Eine Bereithaltung von AKWs über den 31. Dezember hinaus sei "inakzeptabel".

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