Protokollarisch erweist Polen der neuen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) alle Ehren: Bevor es zum Gespräch mit ihrem Kollegen Zbigniew Rau ging, wurde sie von Staatspräsident Andrzej Duda empfangen. Allerdings waren der Antrittsreise nach Warschau, auf die an diesem Sonntag ein Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) folgt, schwere Anschuldigungen vorausgegangen. Und auch alle diplomatischen Höflichkeiten konnten Differenzen nicht verdecken.
Baerbock sagte, sie habe auch schon in Paris und Brüssel erfahren, dass der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP genau gelesen werde. In Warschau trieb er Vertreter der nationalkonservativen Regierungspartei PiS zu schrillen antideutschen Tönen. Die Ampelparteien sprechen sich darin dafür aus, die EU zu einem "föderalen europäischen Bundesstaat" weiterzuentwickeln. In Polen erwuchs daraus der Vorwurf, die neue Bundesregierung wolle ein "Viertes Reich" errichten - geäußert haben soll ihn PiS-Chef Jarosław Kaczyński, der mächtigste Mann in Warschau.
Außenminister Rau blieb diplomatischer, aber auch er machte klar, dass Polen "nicht interessiert ist an einer Föderalisierung Europas". An die Bundesregierung hat er ganz andere Forderungen. Die russische Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 müsse gestoppt werden, verlangte er. Schon einer seiner Vorgänger, Adam Daniel Rotfeld, habe den ersten grünen Außenminister der Bundesrepublik, Joschka Fischer, davor gewarnt, wie gefährlich das Nord-Stream-Projekt für Europa sei.
Mehr als einmal verwies Rau auf die besondere moralische und historische Verantwortung Deutschlands. Er knüpft daran auch die Forderung, die Bundesregierung müsse sich einem Dialog über die Restitution von Kulturgütern stellen sowie "Gesprächen über Entschädigungsmechanismen" für die Verheerungen, die Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg in Polen angerichtet hat.
Baerbock feierte Polens EU-Beitritt auf der Grenzbrücke
Baerbock versuchte, dem ein wenig die Schärfe zu nehmen, indem sie ihre persönliche Beziehung zu Polen herausstellte. Ihre Großeltern seien von dort vor 60 Jahren nach Deutschland gekommen, und sie habe auf der Brücke zwischen Frankfurt/Oder und Słubice den EU-Beitritt Polens gefeiert. Die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs sprach sie an. Es sei der "historische Auftrag", die Freundschaft zu Polen in Frieden ehrlich zu pflegen. Zu starken Freundschaften gehöre es aber auch, Unbequemes anzusprechen.
Gemeint war die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit. Hatte Baerbock vor ihrer Reise noch erklärt, "dass wir als EU unsere Grundwerte ernst nehmen und die Regeln, die wir uns gemeinsam gegeben haben, auch durchsetzen" müssten, sagte sie in Warschau, dass sich die Deutschen davor hüten sollten, sich für bessere Europäer zu halten. Deswegen werde sie "keine öffentlichen Ratschläge erteilen".
Klarer wurde sie mit Blick auf die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Zwar würdigte sie die Rolle Warschaus beim Schutz der EU-Außengrenzen. Es müsse aber auch sichergestellt werden, dass humanitäre Hilfe zur Verfügung steht, und zwar "auf beiden Seiten der Grenze". Die Menschen, die zum Opfer des zynischen Spiels des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko geworden seien, trügen an der Situation keine Schuld.
Großen Raum nahmen der Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine ein. Die territoriale Integrität des Landes sei "nicht verhandelbar" bekräftigte Baerbock; es brauche Lösungen auf diplomatischem Wege, etwa durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der Polen nächstes Jahr den Vorsitz übernimmt, oder den Nato-Russland-Rat.
Auf diese bestehenden Formate des Dialogs mit Russland pocht auch ihr polnischer Kollege. Rau zeigte sich irritiert über den Vorstoß von US-Präsident Joe Biden, zusammen mit ausgewählten Nato-Partnern das Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu suchen. Inzwischen habe es da "aber eine Korrektur gegeben". Baerbock versicherte jedenfalls, Deutschland werde nie etwas über die Köpfe seiner Nachbarn hinweg entscheiden. Zumindest das wird man in Warschau mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben.