Nato:Verbündet, aber schwer irritiert

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Wenn die Royal Air Force über der Nordsee ein US-Kampfflugzeug auftankt, ist wahrscheinlich eine Nato-Übung im Gange. Militärische Fragen werden beim Gipfel in Brüssel weniger Probleme bereiten als die politischen. (Foto: Leon Neal/Getty Images)

Bedrohliches China, beleidigtes Russland: Eigentlich hätten die Verteidigungsminister genug zu besprechen. Doch auch die Nato-Mitglieder haben untereinander einiges aufzuarbeiten.

Von Josef Kelnberger und Paul-Anton Krüger, Brüssel

China hat gerade mit einer Interkontinentalrakete einen neuen Hyperschall-Gleiter in eine Erdumlaufbahn geschossen, womöglich um einmal mit Nuklearsprengköpfen die US-Raketenabwehr überwinden zu können. Und Russland kappt die diplomatischen Beziehungen zur Nato - nachdem seine Streitkräfte im September beim Großmanöver Sapad 2021 mit 200 000 Soldaten und dem simulierten Einsatz taktischer Atomwaffen geübt hatten, eine Intervention der Nato-Staaten in Belarus zurückzuschlagen, die dem Szenario der Moskauer Militärplaner nach auf einen Regimewechsel zielte.

Es gäbe also ohnehin genug zu besprechen, wenn sich die Verteidigungsminister der nordatlantischen Allianz an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel treffen. Doch sehen sie sich auch erstmals persönlich seit dem überhasteten Abzug aus Afghanistan. Der hat bei europäischen Verbündeten Zweifel gesät, ob US-Präsident Joe Biden mehr Rücksicht auf sie nimmt als Donald Trump. Die transatlantischen Irritationen noch verschärft hat der neue indopazifische Sicherheitspakt der Amerikaner mit Australien und Großbritannien, Aukus.

Der U-Boot-Deal mit Australien hat Verwerfungen verursacht

Dieser Pakt hatte nicht nur zur Folge, dass Frankreich einen Milliardenauftrag über U-Boote für Australien an London und Washington verlor. Vor allem aus Perspektive von Präsident Emmanuel Macron bestätigt das heimliche Vorgehen der USA wie schon der Afghanistan-Abzug, was er seit Langem fordert: Dass Europa mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von den USA in der Verteidigung braucht.

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So gerät das Treffen in Brüssel zum Stimmungstest einer Allianz, die auf einen freundschaftlichen Ton und enge Konsultation über den Atlantik hinweg gehofft hatte - sich nun aber einmal mehr mit Misstrauen und auf der Suche nach sich selbst konfrontiert sieht. Dabei lässt sich in militärischen Fragen am ehesten Einigkeit erzielen, so bei der Planung zur Abschreckung und Verteidigung des Bündnisgebiets, die am Donnerstag auf der Agenda steht.

Die Minister beraten, wie die Allianz auf multiple Bedrohungsszenarien reagieren soll, die von einem herkömmlichen militärischen Angriff über hybride Kriegsführung bis hin zu Cyberattacken reichen können. Dabei wird es auch um Antworten auf Russlands Aufrüstung im Bereich atomwaffenfähiger Marschflugkörper und Raketen gehen, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch in Brüssel sagte. Diese hatte zur Kündigung des INF-Vertrags zum Verbot nuklearer Mittelstreckensysteme durch die USA geführt.

Das Bündnis will sich auf Ziele für militärische Fähigkeiten einigen, die aufgebaut werden sollen: Raketen- und Luftabwehr sind Stichworte, strategischer Lufttransport, Aufklärungs- und Geheimdienstkapazitäten. "Ehrgeizig" solle das ausfallen, heißt es in Brüssel - die Debatte über den Verteidigungshaushalt und Investitionen in Großgerät wird auch jede neue Regierung in Berlin beschäftigen.

Politisch zeichnet sich eine härtere Linie gegenüber dem Kreml ab: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nannte bei einem Besuch in der Ukraine Russland als das Hindernis für Frieden im Osten des Landes. Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian attestierte Russlands Präsidenten Wladimir Putin, Nachbarländer einzuschüchtern und sich in Angelegenheiten der EU und Afrikas einzumischen. Die Schließung der russischen Vertretung bei der Nato gilt von Berlin über Paris bis Washington als Beleg, dass Putin an Dialog nicht interessiert ist - was der Kreml umgekehrt der Nato vorwirft.

Bei der Aufarbeitung des Nato-Einsatzes in Afghanistan geht es um den Kampf gegen Terrorismus und Lehren für weitere laufende Ausbildungsmissionen des Bündnisses etwa im Irak - doch schon hier schwingt die Frage nach der Rolle Europas mit. Am Freitag werden die Minister darüber mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell beraten, der einen "strategischen Kompass" der EU ausarbeitet, der unter französischer EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 beschlossen werden soll.

Die EU will ihre eigenen militärischen Fähigkeiten ausbauen

Die Nato entwirft parallel ein neues strategisches Konzept, das die Staats- und Regierungschefs im Juni verabschieden sollen. Dabei wird es vor allem auf Betreiben der USA auch um den Umgang mit China gehen; das derzeitige Grundlagenpapier der Nato geht darauf nicht ein. Aber eben auch darum, welche Rolle Nato und EU jeweils bei der Verteidigung Europas und europäischer Interessen spielen sollen. Selbst französische Diplomaten räumen ein, dass ohne Unterstützung der USA auch der von Paris geführte Militäreinsatz in Mali und in der Sahel-Zone nicht möglich wäre.

Osteuropäische Alliierte sehen das Bündnis mit Washington als Lebensversicherung. Frankreich betont inzwischen, dass EU-Fähigkeiten, eine schnelle Eingreiftruppe etwa, nicht in Konkurrenz zur Nato stehen, sondern Europa in die Lage versetzen sollen, zu handeln, wenn die USA und die Nato dazu nicht bereit sind. Doch da, sagen Diplomaten in Brüssel, muss Paris noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten.

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