Langzeitwirkungen von 9/11:Die Angst köchelt auf kleiner Flamme

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Kein Grund zur Panik? Zehn Jahre nach den Anschlägen in New York und Washington lassen sich die Amerikaner von Terrorwarnungen nicht aus der Fassung bringen. Doch die Nachwirkungen des 11. September sitzen tief.

Reymer Klüver, Washington

Die Drohung war zu erwarten. Spätestens seitdem die Navy Seals Anfang Mai in Osama bin Ladens Aufzeichnungen die vagen Pläne für den zehnten Jahrestag von 9/11 gefunden hatten, war den Sicherheitsexperten in den USA klar, dass sie mit einem Anschlag rechnen mussten. Und nun, da sich die Hinweise auf drei Englisch sprechende Männer aus Pakistan verdichtet haben, die eine Autobombe in New York oder Washington hochgehen lassen wollen, reagieren die Behörden mit bemerkenswerter Gelassenheit.

Tribute in Lights: Dort, wo die Türme des World Trade Centers standen, leuchten nun zum Andenken Lichtsäulen. (Foto: AFP)

Die Sicherheitsvorkehrungen wurden demonstrativ verstärkt: Checkpoints an New Yorker Brücken, schwer bewaffnete Polizisten am Times Square, Patrouillen mit Spürhunden in den U-Bahnen der beiden Metropolen. Doch alles verläuft ruhig, ohne Hysterie. Die landesweite Terrorwarnstufe wurde nicht erhöht. Sogar der rechte New Yorker Kongressabgeordnete Peter King, der für gewöhnlich keine Gelegenheit auslässt, vor Islamisten und der Terrorgefahr zu warnen, sagte nur: "Kein Grund zur Panik". Amerika, so hat es den Anschein, will sich zehn Jahre nach dem Schock von 9/11 partout nicht aus der Fassung bringen lassen.

Überhaupt sind die Anschläge von 9/11 und die Terrorangst nicht mehr so stark im öffentlichen Bewusstsein, oder vielleicht sollte man besser sagen: Sie sind in tiefere Schichten gesunken. Jedenfalls sahen vor einem Jahr nur noch ein Prozent der Amerikaner den islamistischen Terror als größtes Problem ihres Landes. Daran dürfte sich seither nichts geändert haben angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen und mittelmäßigen Prognosen für die Wirtschaft. Zum fünften Jahrestag der Anschläge indes waren die Prioritäten noch anders: Da hatte jeder zehnte US-Bürger das Terrorproblem als größte Herausforderung der Nation genannt.

Dieser Prioritätenwechsel lässt sich überall beobachten. In den Bürgerversammlungen der Politiker zum Beispiel: Der demokratische Senator Ben Cardin etwa hatte zu einer solchen Veranstaltung erst vor ein paar Tagen in Catonsville, einem Vorort von Baltimore, eingeladen. Alles drehte sich um die Gesundheitsreform und die Wirtschaft. Niemand fragte trotz des anstehenden Jahrestages nach der Terrorgefahr oder den Kriegen in Irak und Afghanistan, die im Namen des Kampfes gegen den Terror begonnen wurden.

Oder zum Beispiel das Ende der konstanten Warnungen vor der Terrorgefahr: Ständig herrschte zumindest auf den US-Flughäfen "Code Orange", hohe Alarmbereitschaft. Ohne jeden öffentlichen Aufschrei hatte die Regierung Obama dieses Erbe der Ära Bush im Frühjahr einfach abgeschafft. Und selbst im US-Kongress lässt sich der Wandel beobachten. Die Militärausgaben - unter Hinweis auf den Krieg gegen den Terror fast ein Jahrzehnt lang sakrosankt - sollen nun automatisch um eine halbe Billion Dollar innerhalb eines Jahrzehnts gekürzt werden, wenn sich der Kongress nicht auf ein Schuldenreduzierungsprogramm einigt. Sogar Republikaner haben dem zugestimmt.

Zehn Jahre 9/11
:Der Terrorist und die Staubfrau

Der Präsident verstand erst nicht, um was es geht - und fand dann doch noch seine Rolle. Der Bürgermeister legte sein Image als meistgehasster Politiker ab. Und die in letzter Sekunde gerettete Marcy Borders brauchte lange, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen - bis zu dem Tag, an dem Al-Qaida-Chef Osama starb: die Geschichten von sechs Menschen, deren Schicksal unweigerlich mit 9/11 verbunden ist.

Marie Zahout

Die Terrorangst "köchelt nur auf kleiner Flamme", konstatiert Karlyn Bowman, Meinungsforscherin beim American Enterprise Institute. Die Hälfte aller Amerikaner halten zwar einen Terroranschlag für unausweichlich, doch bleiben die meisten gelassen: Lediglich jeder fünfte macht sich wirklich deswegen Sorgen. Das mag daran liegen, dass sie ihrem Präsidenten - auch wenn sie ihn sonst nicht mehr sehr schätzen - im Kampf gegen den Terror vertrauen. Mehr als 60 Prozent sind der Meinung, dass der Schutz des Landes vor Terroristen bei Barack Obama in guten Händen ist. Das sind bessere Werte, als sie George W. Bush in seinem letzten Amtsjahr hatte.

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Der Präsident verstand erst nicht, um was es geht - und fand dann doch noch seine Rolle. Der Bürgermeister legte sein Image als meistgehasster Politiker ab. Und die in letzter Sekunde gerettete Marcy Borders brauchte lange, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen - bis zu dem Tag, an dem Al-Qaida-Chef Osama starb: die Geschichten von sechs Menschen, deren Schicksal unweigerlich mit 9/11 verbunden ist.

Marie Zahout

Trotz all dieser Tendenzen hat 9/11 aber eine tief sitzende Langzeitwirkung in der Psyche der Nation entfaltet. Das Land ist noch immer definiert durch die Ereignisse. Drei von fünf US-Bürgern sind der festen Überzeugung, dass der Terrortag vor zehn Jahren Amerikas Lebensart dauerhaft verändert hat. So lautet das Ergebnis einer zum zehnten Jahrestag veröffentlichten Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Gallup. Und das Erstaunliche ist, dass die Zahl derjenigen, die ihr Land verändert finden, seit drei Jahren kontinuierlich zunimmt und noch nie so hoch war wie jetzt.

9/11 war für die USA, so konstatiert Allan Lichtman, Historiker an der American University, ein "Paradigmenwechsel" von geschichtlicher Dimension. Die Anschläge hätten den "Mythos der amerikanischen Unverwundbarkeit" zerschlagen. Daraus ist ein schier unstillbares, kollektives Bedürfnis nach Sicherheit entstanden. Und das fordert bis heute einen hohen Preis - finanziell wie psychologisch. Sicherheitsmaßnahmen wurden eingeführt, die vor 9/11 undenkbar waren. Demonstrativ sichtbar sind sie an öffentlichen Orten: von den Ganzkörperkontrollen an den Flughäfen, den Polizisten mit Maschinenpistolen in den Straßen bis zu den Handtaschenkontrollen in den Museen.

Doch viel effektiver dürfte der enorm aufgeblähte Sicherheitsapparat Amerikas sein. Die Washington Post enthüllte im vergangenen Jahr, dass nicht weniger als 1271 Ämter und Behörden an 10.000 Standorten quer durchs ganze Land sowie 1931 private Unternehmen mit Antiterror-Programmen beschäftigt sind. 240.000 Menschen arbeiten allein für das nach den Terroranschlägen geschaffene Heimatschutzministerium.

Überwachungsstaat? Die Antiterror-Gesetze wurden nie zurückgenommen

Der Politikwissenschaftler John Mueller von der Ohio State University hat ermittelt, dass die USA seit 9/11 nicht weniger als eine Billion Dollar in Antiterror-Maßnahmen gesteckt haben (und dabei sind die Ausgaben für die Kriege nicht mitgerechnet). Die Antiterror-Gesetze, die kurz nach 9/11 im Hauruckverfahren den Kongress passierten und eigentlich zeitlich begrenzt gelten sollten, wurden nie zurückgenommen. Seither haben Polizei und Geheimdienste enorm erweiterte Überwachungsbefugnisse. "Wenn wir nach zehn Jahren weiter in diesen Mustern denken und den Prozess nicht umkehren, haben wir uns in einen Orwellschen Überwachungsstaat manövriert", warnt Susan Herman, die Chefin der Aclu, der prominentesten Bürgerrechtsorganisation der USA.

Auch die extreme Zerrissenheit des Landes sehen manche als indirekte Folge von 9/11. Die Invasion Iraks, die Präsident Bush als Teil des Kriegs gegen den Terror rechtfertigte, hat das politische Klima in den USA vergiftet, findet der Politikprofessor Christopher Gelpi von der renommierten Duke University. Und Paul Kennedy, einer der Großhistoriker der USA, sieht Amerika steuerlos abdriften, weil die politische Führung auf den Kampf gegen den Terror fixiert war: "Das soziale Gewebe des Landes ist am Zerfasern", schrieb er vor ein paar Tagen, und "das könnte die wahre Erblast von 9/11 sein."

© SZ vom 10.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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