Das Politische Buch:Das Israel, das wir kannten

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"Nach dem Krieg werden wir alle Antworten auf schwierige Fragen geben müssen, das schließt mich ein":. Premierminister Benjamin Netanjahu (Mitte), Verteidigungsminister Yoaw Galant (links) und Herzi Halevi, Generalstabschefs der israelischen Armee am 23. Oktober in Tel Aviv. (Foto: Koby Gideon/Imago)

Der Holocaust-Forscher Saul Friedländer analysiert akribisch die Fehlentwicklungen unter der rechts-religiösen Regierung Netanjahu. Sein Ausblick könnte eine Blaupause dafür sein, welche Friedenslösung nach dem Krieg im Nahen Osten möglich ist.

Rezension von Alexandra Föderl-Schmid

Der Titel des Buches "Blick in den Abgrund" ist treffend, auch der erste Satz auf dem Klappentext, in dem es heißt, es gehe um "das Israel, das wir kannten". Dieses Israel ist tatsächlich nach den Terrorangriffen der Hamas auf Kibbuzim mit mehr als 1400 Toten ein anderes Land, das auf der Kippe steht und in seiner Existenz bedroht ist. Aber all das konnte Saul Friedländer nicht wissen, als der Autor und großartige Erzähler das begann, was im Untertitel als "israelisches Tagebuch" bezeichnet wird. Dabei war Friedländer gar nicht in Israel, er beobachtet die politischen Entwicklungen seit dem Antritt der rechts-religiösen Regierung im Januar 2023 aus der Ferne, aus den USA. Es ist auch kein klassisches Tagebuch, wenngleich die einzelnen Kapitel mit einem Datumseintrag beginnen und wichtige Ereignisse an diesem Tag aufgreifen. Das Buch des 91-Jährigen ist vielmehr eine Mischung aus Kommentaren zum aktuellen Geschehen, aus historischen Einordnungen und autobiografischen Rückblenden.

Die aktuellen Entwicklungen kann dieses Buch nicht enthalten, aber Friedländer beschreibt auf 237 Seiten mit Verve die Arbeit der rechtsreligiösen Regierung und ihren Fokus auf Themen wie die Justizreform und den Ausbau der Siedlungen. Genau diese Konzentration, so der Vorwurf in Israel, habe zur Vernachlässigung von Sicherheitsinteressen und damit zum Versagen von Politik, Geheimdiensten und Armee vor dem 7. Oktober geführt.

Friedländer verhehlt nicht, dass ihn die seit Monaten andauernden Demonstrationen Zehntausender gegen die sogenannte Justizreform beeindruckten. "Sie protestieren gegen die Minderheit messianischer Fanatiker und politischer Protagonisten eines autokratischen Regimes und stellen eine Opposition auf die Beine, die einer Gesellschaft, die viele Jahre lang träg vor sich hin zu dämmern schien, eine neue Einheit und Energie jenseits der reinen Politik verleiht."

Blick auf die Vormacht europäischer Juden

Der Holocaust-Überlebende versucht zu ergründen, warum sich dieses Land, zu dessen Aufbau er in verschiedenen Positionen beigetragen hat, in diese Richtung entwickelt hat. Er bemüht sich nachzuzeichnen, wie dieses Land politisch so weit nach rechts rücken konnte und warum die Religion in der Politik eine so große Rolle spielt.

Friedländer beschreibt die vielfache Spaltung der israelischen Gesellschaft: Die noch immer andauernde Vormachtstellung der europäischen Juden, der Aschkenasim, die sephardische Juden und jene aus dem Nahen Osten diskriminierten oder bei Postenbesetzungen nicht berücksichtigten. Und die im Land Geborenen sahen auf die Eingewanderten hinab.

All das hatte Auswirkungen auf die Parteienlandschaft und beeinflusst das politische Geschehen heute. Friedländer analysiert, wie diese Ungleichbehandlungen zur Gründung der Schas-Partei führten, die in der jetzigen Koalition eine wichtige Rolle spielt. Darin liegt auch der Mehrwert dieses Buches, in dem historische Hintergründe aufgezeigt werden, was in den vergangenen Monaten in Berichten über die Proteste gegen die Justizreform nur angerissen war. Außerdem bettet der Autor Reaktionen in den USA ein und greift das Thema Antisemitismus auf.

Vom "Hardliner" zum Linksliberalen: Der israelische Historiker und Autor Saul Friedländer im Jahr 2016. Vor wenigen Wochen wurde er 91 Jahre alt. (Foto: Regina Schmeken/Regina Schmeken)

Friedländer schafft es, den Bogen vom Zionismus über den Nationalismus bis zur Siedlerbewegung zu spannen. Er bringt manches knapp auf den Punkt, etwa die Antwort auf die Frage, warum es so viele Siedler ins Westjordanland zieht: "Messianische Ideologie wiegelt auf, billige Immobilien ziehen an." Die Siedlungen bezeichnet er als "Krebsgeschwür in der israelischen Politik und, mehr noch, in der israelischen Gesellschaft".

Ein Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung

Der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2007 ausgezeichnete Autor geht aber auch kritisch mit sich selbst ins Gericht. Friedländer, der den Holocaust versteckt in Frankreich überlebte und 1948 an Bord des berühmten Flüchtlingsschiffes "Altalena" nach Palästina kam, beschreibt seine persönliche Entwicklung: "Meine Einstellung blieb über viele Jahre hinweg die eines Hardliners." Erst später sei er "linksliberal" geworden.

Für ihn ist die Frage des Umgangs mit den Palästinensern entscheidend für die Zukunft Israels. Friedländer tritt für eine Zwei-Staaten-Lösung ein und hält auch eine Föderation für möglich. Der Autor kritisiert "das fast vollständige Ausklammern der Palästinenserfrage" bei den Demonstrationen der Israelis in den vergangenen Monaten. Friedländer tritt für einen entmilitarisierten palästinensischen Staat ein, "wenn nötig für Jahre mit einer gewissen amerikanischen Präsenz auf seinem Territorium". Das könnte auch eine Blaupause sein für die Zeit nach dem aktuellen Krieg im Nahen Osten.

Der Shoah-Forscher setzt sich differenziert mit der israelischen Armee auseinander, die er als "das idealisierte Selbstbild des Landes" beschreibt. Die Streitkräfte sind für ihn zwar Besatzungsmacht im Westjordanland, die vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurückschreckt. Er hebt aber hervor, dass nun die Militärführung die rechtsreligiöse Regierung nicht bedingungslos unterstützt hat.

Das Kabinett? Eine "Galerie von Verrückten"

Wenn es um die beiden Minister mit den rechtesten Positionen in der Regierung geht, um Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, dann gibt es für Friedländer nichts zu differenzieren, hier wird er sehr deutlich. Ben-Gvir ist für ihn die "anstößigste und ekelhafteste Figur in dieser Galerie von Verrückten". An mehreren Stellen in diesem Buch verweist er auf nicht so bekannte Beschlüsse dieser Koalition, die den Ultraorthodoxen und Nationalisten mehr Rechte einräumen.

Saul Friedländer: Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C.H. Beck, München 2023. 237 Seiten, 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Das Buch endet mit einer Eintragung am 26. Juli 2023, zwei Tage nach der Verabschiedung des Kernstücks der Justizreform in der Knesset. Friedländer versucht fast krampfhaft, "mit einem Hauch von Optimismus zu schließen". Seine Prognose: Die Koalition werde sich "in nicht allzu ferner Zukunft von innen heraus auflösen", Netanjahu werde sich aus der Politik zurückziehen und sein Likud nicht mehr stärkste Partei sein.

Diese Prophezeiung könnte sich bewahrheiten, wenn sich Israel nach den Kriegsereignissen und der jetzt verständlicherweise beschworenen Einheit auf die Suche begibt, was vor dem 7. Oktober falsch gelaufen ist. Insofern ist es tatsächlich ein "Blick in den Abgrund".

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