Israel:Schimpftiraden am Tag der Versöhnung

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Jugendliche sitzen während des jüdischen Feiertags Jom Kippur auf einer autofreien Kreuzung. (Foto: Oded Balilty/DPA)

Der politische Streit in Israel hat sogar den höchsten jüdischen Feiertag überschattet. An Jom Kippur liefern sich fromme und säkulare Juden einen Schlagabtausch in Tel Aviv.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Statt der Gebete gab es Gerangel, statt frommer Worte böse Schimpftiraden: In Tel Aviv und auch andernorts in Israel ist es zu hässlichen Auseinandersetzungen zwischen orthodoxen und säkularen Juden gekommen, ausgerechnet an Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Auch der höchste jüdische Feiertag ist damit in den politischen Konflikt hineingezogen worden, der das Land seit Monaten aufwühlt. Dies zeigt in aller Deutlichkeit, dass es längst schon um weit mehr geht als um die von der rechts-religiösen Regierung vorangetriebene Justizreform. Gerungen wird um die Zukunft des jüdischen Staats, mithin um die Frage, ob Israel Gefahr läuft, von der Demokratie zur Theokratie zu mutieren.

Auslöser des diesjährigen Jom-Kippur-Konflikts war das Vorhaben einer religiösen Organisation namens "Rosch Yehudi", im Herzen von Tel Aviv, am Dizengoff-Platz, zum Eingang und Ausgang des Feiertags am Sonntag- und Montagabend öffentliche Gebete abzuhalten. Schon im vorigen Monat allerdings hatte die Stadtverwaltung klargestellt, dass dabei keine Barrieren zur Geschlechtertrennung aufgebaut werden dürfen, wie sie bei orthodoxen Gebeten üblich sind.

Auch in den Vorjahren gab es Gebete mit Barrieren - ohne Beanstandungen

Die Rosch-Yehudi-Verantwortlichen versuchten die Trennwände auf dem Gerichtsweg durchzusetzen, unter Berufung auf ihr Recht zur freien Religionsausübung. Doch mit ihrer Petition blitzten sie sowohl beim Tel Aviver Bezirksgericht wie auch beim Obersten Gericht in Jerusalem ab. Zur Begründung hieß es, dass eine Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum diskriminierend sei. Wer beim Gebet darauf poche, dem stünden auch in Tel Aviv Hunderte Synagogen offen.

Angesichts der betont liberalen Grundhaltung der Tel Aviver Stadtverwaltung und der israelischen Rechtslage kam diese Entscheidung nicht überraschend. Allerdings waren in den Vorjahren genau solche Jom-Kippur-Gebete mit sichtbaren Barrieren auch auf dem Dizengoff-Platz abgehalten worden. Beanstandungen gab es nicht, im Gegenteil: Die Veranstaltungen, an denen bis zu 2000 Menschen teilnahmen, war von vielen sogar als ermutigendes Zeichen für Koexistenz gewertet worden, weil sich dort die Frommen und Säkularen gemischt hatten und jeder nach seiner Façon gebetet oder zugeschaut hatte.

In diesem Jahr aber ist alles anders. Grund dafür ist die neue rechts-religiöse Regierung, die vor neun Monaten ins Amt kam und tiefe Gräben aufgerissen hat in der israelischen Gesellschaft. Die ultraorthodoxen und national-religiösen Partner von Premierminister Benjamin Netanjahu propagieren offen die Geschlechtertrennung, nicht nur beim Gebet, sondern in vielen öffentlichen Bereichen. Im Streit um die sogenannten Justizreform ist zudem vieles aufgebrochen, was zuvor oft unter der Oberfläche schwelte. Die liberalen Kräfte sind alarmiert und zeigen sich bereit, ihre Werte und Vorstellungen wo immer nötig zu verteidigen.

"Schande, Schande" skandierten die Gegner der Geschlechtertrennung

Das sind keine Zeiten für Brückenbauer, und auch an Jom Kippur hatten es nun beide Seiten offenkundig auf ein Kräftemessen angelegt. Die Rosch-Yehudi-Verantwortlichen hatten zunächst angekündigt, die Gebete abzusagen, weil man ohne Geschlechtertrennung die religiösen Regeln nicht einhalten könne. Dann aber tauchten sie doch auf dem Dizengoff-Platz auf und zogen mit israelische Flaggen eine improvisierte Barriere hoch. Das brachte ihre Gegner in Wallung, die schnell die Flaggen niederrissen und dabei das skandierten, was auch auf den wöchentlichen Massenprotesten zu hören ist: "Schande, Schande".

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Für verantwortliche Politiker sollte all das eigentlich ein Grund zur Sorge ein. Israels Regierungspolitiker aber fachen die Flammen nun noch weiter an. Premier Netanjahu schimpfte sogleich auf die "linken Extremisten", die nun gegen fromme Juden vorgingen und randalierten. Sein Sohn Yair verglich das mit früheren Pogromen gegen Juden in Europa. Und Itamar Ben-Gvir, der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, hat sogleich eine Chance gewittert, noch einmal kräftig nachzulegen. An Donnerstagabend, so kündigte er an, werde er auf dem Tel Aviver Dizengoff-Platz persönlich zum Gebet erscheinen.

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