Vereinte Nationen:Ein Gericht für Gestürzte und Verjagte

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Der Internationale Strafgerichtshof hat seinen Sitz im niederländischen Den Haag. (Foto: Sascha Steinach/imago images)

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wird 25 Jahre alt. Immer wieder kommt der Vorwurf der politischen Einäugigkeit auf. Bei der Festrede tänzelte allerdings auch Außenministerin Baerbock um diesen Elefanten im Raum herum.

Von Ronen Steinke

Das Völkerrecht hat Zähne bekommen. Das ist die gute Nachricht, die mit der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs vor jetzt genau 25 Jahren verbunden ist. Aber diese Zähne beißen nicht jeden. Das ist die problematische Seite.

So groß zum Beispiel die Freude über die historischen Haftbefehle gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und dessen "Kinderrechtskommissarin" Maria Lwowa-Belowa war, die am 17. März wegen der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine verhängt wurden, so fehlte dennoch unter Beobachtern auch in Europa selten die Frage: Und was ist mit George W. Bush? Und was ist mit Tony Blair?

Zur Gerechtigkeit gehöre schließlich, dass sie für alle mutmaßlichen Kriegsverbrecher gleichermaßen gelten müsse, egal wie mächtig oder gut vernetzt diese seien. "Dieser Haftbefehl ist kein Mittel der Gerechtigkeit. Er ist eher Teil einer erweiterten Kriegsführung", kommentierte zum Beispiel in der Wochenzeitung Die Zeit der Kriegsreporter Wolfgang Bauer bitter. Bei aller Liebe: Der Westen zeige hier seine Doppelmoral. Das schade der Glaubwürdigkeit - und am Ende auch dem Recht.

Der Vorwurf der Doppelmoral ist nie ganz auszuräumen gewesen

In den Festreden zum 25-jährigen Bestehen des Gerichtshofs, die nun am Montag im UN-Hauptquartier in New York gehalten wurden und zu denen auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock beitrug, tänzelte man um diesen Elefanten im Raum sorgsam herum. Dabei ist der Vorwurf der politischen Einäugigkeit zentral, wenn man die politische Dynamik im Herzen dieses Gerichts betrachten will. Ein Gericht, das über allen, wirklich allen Köpfen thront, sodass auch Generäle oder Präsidenten nicht "über dem Gesetz" stehen: Was für eine große Idee. Und was für eine ferne.

Der Vorwurf der Doppelmoral ist nie ganz auszuräumen gewesen, auch nicht, wenn Juristen immer wieder erläuterten: Die Ukraine habe nun mal von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht, dem Gerichtshof die Jurisdiktion über ihr eigenes Gebiet zu geben und damit auch über die russischen Verbrechen dort. Der Staat Irak hingegen habe das mit Blick auf die USA und Großbritannien nie tun wollen; leider.

Der schreiende Wunsch nach gleichem Recht für alle, das ist in gewisser Weise sogar von Beginn an der Impuls für die Gründung dieses Gerichts gewesen. Das war 1998: Sechzig Staaten unterzeichneten damals in Rom das Gründungsdokument, darunter waren von der ersten Stunde an sehr viele afrikanische. Sie, die später am lautesten über ein "neokoloniales" Gericht schimpften, unterwarfen sich freiwillig - anders als die USA, China, Russland, Indien, Israel und fast die gesamte arabische Welt.

Der Gerichtshof hat sich anfangs seinen Ruf als "westliches" Gericht durchaus redlich verdient

Es war ein gewiefter deutscher Diplomat namens Hans-Peter Kaul, der dabei eine große Rolle spielte. Sein Argument lautete, dass Afrika mit der Hilfe dieses Gerichtshofs den bisher tonangebenden, reichen, westlichen Staaten die Deutungshoheit über Kriegsverbrechen streitig machen könne. Dass die afrikanischen Staatschefs, die dann in großer Zahl ihre Unterschrift unter das Statut des Gerichtshofs setzten, damit zuvorderst ihre eigene Tür für die Ermittler aus Den Haag öffneten - das realisierten manche womöglich erst später.

Der Gerichtshof hat sich dann anfangs seinen Ruf als "westliches" Gericht durchaus redlich verdient. Da gab es ein Fahndungsplakat, das überall in dem neu bezogenen Gebäude in Den Haag aushing. 23 mutmaßliche Kriegsverbrecher waren abgebildet - ausschließlich Schwarzafrikaner. Erst 2011 kam der Libyer Muammar Gaddafi hinzu, und seither noch einige Araber mehr. Im Jahr 2019 lehnten die Richter in Den Haag es ausdrücklich ab, Ermittlungen wegen möglicher US-Kriegsverbrechen in Afghanistan zu erlauben - obwohl Afghanistan ein Mitgliedsland des Gerichtshofs ist. Die Entscheidung löste Empörung aus und wurde später korrigiert.

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Oft ist Den Haag bislang ein Ort der Verbannung für Gestürzte und Verjagte

Aber zur Wahrheit gehört: Der Fortschritt kam langsam, aber er kam. Der seit 2021 amtierende Chefankläger des Gerichtshofs, der Brite Karim Khan, ermittelt mit großer Energie auch gegen die Regime in Venezuela und Myanmar. Auch mutmaßlichen israelischen Kriegsverbrechen geht er offiziell nach - unter Verweis darauf, dass der "Staat Palästina" dem Gerichtshof als Mitglied beigetreten sei. Die USA sind bis heute auf Distanz.

"In den Augen der Opfer", so erklärte Annalena Baerbock am Montag, sei der Gerichtshof heute "die Hoffnung darauf, dass ihr Leid nicht ungestraft bleibt." In den Augen von politischen Machthabern aber ist er oft ein geeignetes Instrument, um innenpolitische Konkurrenten zu entsorgen. Oft ist Den Haag bislang ein Ort der Verbannung für Gestürzte und Verjagte. Vor Gericht standen zwar auch schon ehemalige Staatschefs, der Ex-Präsident von Cote d'Ivoire zum Beispiel. Aber es sind in der Regel Despoten, deren Zeit ohnehin schon abgelaufen war - sie sind gestürzt worden, und ihre Nachfolger haben sie dann in ein Flugzeug gesetzt und nach Den Haag abgeschoben.

Das ist auch das realistischste Szenario, damit Wladimir Putin tatsächlich in Den Haag landet. Sollte er eines Tages gestürzt werden, könnten seine Nachfolger in Moskau ihn auf diese Weise "sauber" aus dem Land entfernen und von Rückkehrfantasien abhalten. Wer weiß, vielleicht geschieht das schneller als man heute ahnt.

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