Ukraine:Ermittlungen gegen das "Verbrechen aller Verbrechen"

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Ein Ermittler untersucht mögliche Kriegsverbrechen in der Region Kiew. (Foto: Zohra Bensemra/Reuters)

In Den Haag wird es ein Zentrum geben, das Beweise für den russischen Angriffskrieg sammelt. Kommt ein Sondertribunal für russische Kriegsverbrecher? Wird auch Putin verfolgt? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Leopold Zaak

Andrij Kostin sprach von einem "historischen Moment". Der ukrainische Generalstaatsanwalt sagte in einer euphorischen Ansprache, dieser Tag definiere eine Epoche, an dem eine Schwachstelle im internationalen Recht geschlossen werde. Anlass für seine Worte ist der Arbeitsbeginn für das sogenannte Zentrum zur Verfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine, kurz ICPA. Das Zentrum soll Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für den russischen Angriffskrieg bündeln, Beweise sollen in einer Datenbank gesammelt und geteilt werden.

Welche Bedeutung hat das ICPA ? Was sind seine Handlungsoptionen? Und ist das Zentrum ein Weg hin zu einem Sondertribunal für russische Kriegsverbrecher? Die wichtigsten Punkte im Überblick:

Was genau ist das ICPA?

Das Zentrum ist in der europäischen Justizbehörde Eurojust in Den Haag untergebracht und wird im wesentlichen von seinen sechs Mitgliedsstaaten getragen: Litauen, Lettland, Estland, Polen, Rumänien und der Ukraine. In den kommenden Monaten könnten weitere Staaten hinzukommen, die ebenfalls im Krieg Russlands gegen die Ukraine ermitteln. Der Internationale Strafgerichtshof IStGH unterstützt das ICPA, ebenso wie die USA. Finanziert wird das Zentrum von der EU-Kommission.

Das ICPA ist keine eigenständige Ermittlungsbehörde und hat auch keine vergleichbaren Befugnisse. Es soll lediglich dazu dienen, die Ermittlungen gegen Verantwortliche für den russischen Angriffskrieg zu koordinieren. Beweise sollen in einer eigens geschaffenen Datenbank gesammelt und geteilt werden. Hierbei soll es vor allem um die Hinweise zur Planung, Vorbereitung und Durchführung des russischen Angriffs gehen. Ziel ist es, die Beweise bei einem späteren möglichen Gerichtsprozess gegen russische Kriegsverbrecher den Anklägern zur Verfügung zu stellen.

Das Zentrum will Russland für seinen Angriffskrieg verfolgen. Worin liegt der Unterschied zu Kriegsverbrechen?

Hier geht es um juristische Feinheiten. Beim Nürnberger Tribunal gegen die Nazi-Kriegsverbrecher bezeichneten die Richter einen Angriffskrieg als "crime of the crimes", als das größte Verbrechen, aus dem alle späteren Verbrechen entstünden. Was die Voraussetzungen für die Strafverfolgung angeht, so ist das beim "Verbrechen aller Verbrechen" deutlich komplizierter. Lange konnte der Internationale Strafgerichtshof bei kriegerischer Aggression gar nicht ermitteln, erst seit 2018 darf er das - mit Einschränkungen. Der mutmaßlich angreifende Staat und der mutmaßlich angegriffene Staat müssen einer Ermittlung zustimmen. Das Russland das tun wird, scheint ausgeschlossen.

Kriegsverbrechen lassen sich dagegen strafrechtlich leichter verfolgen. Eine der beiden Konfliktseiten muss die Rechtsprechung des IStGH anerkennen. Auch wenn die Ukraine das Römische Statut noch nicht ratifiziert hat, kann der Internationale Strafgerichtshof hier ermitteln.

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Gibt es also bald ein Sondertribunal für den russischen Angriffskrieg?

Ein Gericht, das sich mit dem Angriffskrieg Russlands beschäftigt, gibt es noch nicht, es wird allerdings seit Monaten immer wieder gefordert, zuletzt vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij. Aber auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist offen für ein solches Tribunal, ebenso wie Außenministerin Annalena Baerbock. Die Einrichtung des Zentrums in Den Haag könnte ein erster Schritt sein hin zu einem Tribunal.

Ob es allerdings tatsächlich ein Sondertribunal geben wird, ist unklar. Denn ein solches Gericht einzusetzen, ist alles andere als leicht. Dafür wäre die Vollversammlung der Vereinten Nationen zuständig, und ob es für ein Sondertribunal eine Mehrheit gibt, ist zumindest zweifehlhaft. Eine andere Möglichkeit wäre, ein ukrainisches Sondergericht aufzustellen, an dem auch internationale Richter arbeiten. Kenneth Polite, stellvertretender Generalstaatsanwaltschaft der USA, brachte am Montag ein solches Modell erneut ins Spiel. Kritiker der Idee mahnen jedoch an, dass etwa der russische Präsident Wladimir Putin vor einem solchen Gericht möglicherweise immun wäre.

Die Beweise, die beim ICPA gesammelt werden, könnten jedoch auch in Prozessen vor nationalen Gerichten verwendet werden, sagte EU-Justizkommissar Didier Reynders. Das ICPA arbeite nicht speziell für ein internationales Sondergericht.

Welche Ermittlungen gegen Russland gibt es bereits?

Seit Beginn des Krieges untersuchen die Ankläger des IStGH die Lage in der Ukraine, um mögliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ermitteln. Im vergangenen März verkündete der IStGH dann, dass er Haftbefehl gegen Putin sowie gegen die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa erlassen habe. Dabei ging es um Kriegsverbrechen, genauer um die Verschleppung von ukrainischen Kindern nach Russland. Man habe den Verdacht, dass Putin und Lwowa-Belowa für die Verschleppungen verantwortlich seien. Die russischen Besatzer haben wohl Hunderttausende Kinder aus den eroberten Gebieten gebracht, teilweise wurden sie in Russland zur Adoption freigegeben. Die USA gingen im vergangenen Jahr von 260 000 Kindern aus, die Ukraine gibt an, 19 492 Kinder seien nach Russland deportiert worden. In diese Statistik fließen jedoch nur bestätigte Fälle ein.

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